Das Kulturideal des Liberalismus

_ Wilhelm Röpke. Frankfurt-am-Main, 1947.*

Der Niedergang des Liberalismus

Unsere moderne Welt ist unstreitig immer mehr zu einem riesenhaften Maskenfest der Ideologien geworden, auf dem niemand mehr recht weiß, was sich hinter der Wortvermummung in Wirklichkeit verbirgt. Unser tägliches Vokabularium ist in einem erschreckenden Umfange mit Ausdrücken wie «Demokratie», «Reaktion», «Kapitalismus», «Sozialismus», «Faschismus» und vielen anderen durchsetzt, die den Zweck der Sprache, nämlich die Verständigung der Menschen durch Übertragung präziser Vorstellungen, vereiteln. Es wäre sicherlich eine außerordentliche Wohltat für alle, die nichts zu verbergen haben, wenn einmal für ein ganzes Jahr dieser Mummenschanz suspendiert und so jedermann gezwungen würde, mit frischen und unverbrauchten Ausdrücken klar und einfach zu sagen, was er meint, wenn er mit den politischen Wortschöpfungen unserer Zeit hantiert. Da dieser Gedanke leider eine Utopie bleiben muss, so ist es umso notwendiger, von Zeit zu Zeit sich zu besinnen und den politischen Problemen die Wortmasken abzureißen, hinter denen sie sich verbergen. Oder um das Bild zu wechseln: Es ist eines der dringendsten Gebote der öffentlichen Geisteshygiene, von den großen politischen Sammelbegriffen der Gegenwart die Kruste abzukratzen, die sich im Laufe der Zeit von Buch zu Buch, von Leitartikel zu Leitartikel, von Wahlrede zu Wahlrede und von Gespräch zu Gespräch auf ihnen abgesetzt hat.

Am merkwürdigsten unter diesen Begriffen ist es vielleicht dem «Liberalismus» ergangen — so merkwürdig in der Tat, dass man die Geschichte dieses Wortes zu einer Geistes- und Sozialgeschichte der letzten Generationen gestalten könnte. Entstanden vor über hundert Jahren in den Wirren des spanischen Bürgerkrieges zur ehrenvollen Bezeichnung des Gegenteils von «Servilismo», ist es dann im ganzen Abendland zum stolzen Banner der politischen, geistigen und wirtschaftlichen Bewegungen geworden, die dem Ideal des Fortschritts in Freiheit und demokratischer Ordnung ergeben waren. So buntgemischt auch der Heerhaufen erschien, der sich hier sammelte, und so mannigfaltig auch die Kontingente waren, die die einzelnen Länder oder Gesellschaftsschichten dazu stellten, so war doch allen etwas Gemeinsames mit einer Deutlichkeit aufgeprägt, dass man geradezu von einem Zeitalter des Liberalismus sprechen konnte. «Liberalismus» war etwas, wozu man sich mit Stolz bekannte und was man in weitesten Schichten für eine Empfehlung halten konnte. «Liberal» nannte sich die große Partei Englands, neben der nur noch die andere der Konservativen in Betracht kam, und selbst ein Mann wie Chesterton, der eine so unbarmherzige — und, wie wir heute sehen, berechtigte — Kritik an vielem übte, was uns als Ausfluss des liberalen Zeitalters erscheint, sprach damals mit lässiger Selbstverständlichkeit von «We Liberals».[1]

Und heute? Es wird nicht leicht sein, noch Länder zu finden, in denen das Wort «Liberalismus» seinen alten, vollen Klang behalten hat. Umso zahlreicher sind die anderen, in denen es durch eine jahrzehntelange Propaganda zum Inbegriff alles Veralteten, wenn nicht Verwerflichen geworden ist. Wenn der Satz eines Spengler, dass der Liberalismus «eine Sache für Tröpfe»[2] sei, zwar allein in Deutschland und in erster Linie für dieses Land geprägt worden ist, so ist es doch eine offenkundige Tatsache, dass hier einem Denken übertriebener Ausdruck gegeben wurde, das kaum irgendeinem Lande fremd geblieben ist. Überall haben sich mehr und mehr Menschen angewöhnt, mit dem Wort «Liberalismus» die Vorstellung egoistischer Engherzigkeit, der satten Bürgerlichkeit, der sozialen Härte, der Unempfindlichkeit gegenüber den Geboten der Gemeinschaft, der Unmännlichkeit, zersetzender Asphaltkultur, geistiger Vergreisung und ödester Diesseitigkeit zu verbinden, und um ihrer Verachtung vollen Ausdruck zu geben, scheuen sich viele nicht, dem Beispiel einiger besonders verhängnisvoller deutscher Romantiker der Politik zu folgen und das Wort «liberalistisch» zu zischeln.

Besonders aufschlussreich aber ist die Beobachtung, dass alle totalitären Bewegungen unserer Zeit mit sicherem Blick im Liberalismus ihren eigentlichen Gegensatz erkannt und keinen Augenblick aufgehört haben, mit Gewalt, Verleumdung und Beschimpfung gegen ihn Krieg bis aufs Messer zu führen. Auf der ständigen Suche nach irgendeiner erfolgversprechenden Wendung haben die modernen Tyrannen — mögen sie sich nun faschistisch, nationalsozialistisch oder kommunistisch nennen — alle Maskenkostüme ausprobiert. Sie haben uns versichert, dass sie sozialistisch oder demokratisch oder nationalistisch oder romantisch-korporatistisch oder was sonst immer seien. Ja, sie haben zuzeiten den Zynismus so weit getrieben, dass sie sogar dem Christentum Reverenz erwiesen. Aber sie haben sich gehütet, jemals dem Liberalismus den Hof zu machen. Hier mussten sie haltmachen, wenn sie sich nicht selbst aufgeben wollten, denn «Liberalismus» bedeutete ja für Mussolini die Freimaurer, für Hitler die «Juden», die «Intelligenzbestien» und «Schwätzer», für Lenin die verhasste «Bourgeoisie». Für diese neuropathischen Zigeuner unserer Gesellschaft verkörperte der Liberalismus jene Welt des Bürgertums, die ihnen fremder und unzugänglicher als Tibet war. Und doch würden sie vielleicht in ihrem zynischen Pragmatismus selbst einen vorübergehenden Flirt mit dem Liberalismus nicht gescheut haben, wenn sie sich davon irgendeine Wirkung auf die Massen versprochen hätten. Aber als Kenner der Massenseele, deren Ausdruck sie selbst waren, wussten sie nur zu gut, dass man um sie nicht mit den liberalen Gedanken der Toleranz, der Persönlichkeit, der Freiheit und des Rechtes wirbt. Sie zogen es vor, die Massenleidenschaften durch die Parolen des Nationalismus und Sozialismus zu entflammen, die der Massenseele gemäß sind und in ihrer Mischung zu dem Dynamit wurden, das die Welt in die Luft gesprengt hat.

In der Tat entspricht der Stellung des Liberalismus als des von allen Seiten Gescholtenen der allgemeine Niedergang seines politischen Einflusses. Es gibt — vielleicht mit Ausnahme der Schweiz, Belgiens und Schwedens — kaum ein Land, in dem er nicht zwischen den Mühlsteinen der den politischen Leidenschaften und der Organisation verfallenen Massenparteien mehr oder weniger unaufhaltsam zerrieben würde. In England, seinem klassischen Ursprungslande, ist er als organisierte Partei zur völligen Bedeutungslosigkeit herabgesunken und in einigen anderen Ländern nur noch von einigem Gewicht als Sammelgruppe von Persönlichkeiten, deren nationales Prestige einen gewissen Ausgleich für die schwindenden Wahlstimmen bietet. Weit wichtiger aber als dieser Niedergang des Liberalismus als einer organisierten politischen Bewegung ist die Tatsache, dass er praktisch aufgehört hat, das bestimmende Kulturideal der Zeit zu sein, und, durch innere Krisen geschwächt und durch seine Misserfolge entmutigt, mehr und mehr selbst an seiner Mission irre geworden ist. Selbst dort, wo man sich weiterhin liberal nennt, hat man sich vielfach durch die antiliberale Propaganda der letzten Jahrzehnte so sehr einschüchtern lassen, dass viele nicht mehr den Mut und das gute Gewissen haben, zur eigenen Tradition zu stehen, und ein Stück nach dem anderen dem Gegner preisgeben.

Das ist die Lage, der frei und ohne Selbsttäuschung ins Auge zu sehen am meisten dem liberalen Temperament selbst entsprechen sollte, das so sehr jedem Fanatismus und jeder Verdrehung der Wahrheit im Dienste des Massenerfolgs entgegengesetzt ist. Es ist eine handgreifliche Wahrheit, dass die Krisis unserer Gesellschaft mit der Krisis des Liberalismus zusammenfällt. Da nun diese Krisis unserer Gesellschaft mit der drohenden Zerstörung unserer gesamten Kulturtradition gleichbedeutend ist und uns statt der Morgenröte einer neuen und schöneren Zukunft nur Krieg, Elend und Knechtschaft beschert, so könnte man meinen, es sei nur höchst ehrenvoll für den Liberalismus, wenn er zusammen mit Recht, Frieden, Freiheit und Wohlstand zum Opfer der Gesellschaftskrisis geworden ist. Daraus wäre zu folgern, dass wir nichts Besseres tun könnten, als zusammen mit diesen Gütern und Idealen unserer Zivilisation auch die alte Fahne des Liberalismus als einer unumstößlichen Wahrheit hochzuhalten und gegen jeden Angriff zu verteidigen. Der Niedergang des Liberalismus, so könnte man meinen, wäre gleichbedeutend mit dem Abfall vom Recht, vom Frieden und von der Freiheit. Es bliebe uns dann nur übrig, an seinen verlassenen Altären jammernd die Hände zu ringen und die Schuld ausschließlich der Dummheit und der Bosheit der anderen Menschen aufzubürden.

Man kann menschliches Verständnis für eine solche Haltung haben. Man kann sie ritterlich und männlich, man kann sie aber auch eigensinnig und wenig intelligent nennen. Jedenfalls ist sie für keinen länger möglich, der den wirklichen Problemen ernst und sachlich ins Auge sehen und die heutige Situation ehrlich würdigen will. Eine solche kritische Würdigung des Liberalismus muss dem Liberalen aber auch deshalb empfohlen werden, weil sie an die Stelle elegischer Klagen, die zu nichts führen, Ansporn und Hoffnung setzt. Läge alles nur an der Dummheit und Bosheit der Menschen, so müssten die Liberalen ihre Hoffnung darauf setzen, dass sich die anderen ändern. Kommen sie aber zu dem Ergebnis, dass mindestens ein erheblicher Teil der Schuld bei ihnen selbst liegt, so brauchen sie nicht länger ihre Hoffnung darauf setzen, dass sich die anderen ändern: es genügt, wenn sie sich selbst ändern. Auch hier gilt, was Demosthenes in der dritten Philippika den verzagten Athenern zuruft: «Was uns bisher am meisten geschadet hat, wird uns in der Zukunft am meisten nützen. Wieso? Weil ihr nichts, absolut nichts von dem getan habt, was notwendig war, befinden wir uns jetzt in dieser üblen Lage. Wenn ihr alles, was notwendig war, getan hättet, und es dann genau so schlecht stünde wie jetzt, dann gäbe es überhaupt keine Hoffnung auf Besserung mehr.»

Wir könnten in der Tat von Glück sagen, wenn sich herausstellen sollte, dass der Liberalismus kein völlig schuldloses Opfer der Gesellschaftskrisis geworden ist, dass er in wesentlichen Punkten geirrt hat und dass er durch Berichtigung seiner Irrtümer auf eine Überwindung seiner Krise hoffen darf. Steht es möglicherweise so, dass er, weit entfernt, ein bloßes Opfer der Gesellschaftskrisis zu sein, durch seine Irrtümer zu ihrer Entstehung beigetragen hat? Und, wenn das der Fall sein sollte, und wenn die Krisis der modernen Gesellschaft gleichzeitig die Krisis des Liberalismus ist, dürfen wir dann nicht auch hoffen, durch eine Reinigung und innere Verjüngung des Liberalismus entscheidend zu einer Überwindung der Krisis der Gesellschaft im Ganzen beizutragen? Liegt nicht im Zusammentreffen der Krisis der Gesellschaft und des Liberalismus eine sehr tiefe Bedeutung?

Das Wesen eines unvergänglichen Liberalismus

Von diesen sehr ernsten und doch zugleich hoffnungsvollen Fragen wollen wir uns leiten lassen, wenn wir uns nunmehr der schwierigen Aufgabe zuwenden, Wesen und Irrtum des Liberalismus näher zu bestimmen. Wir können bei dieser Gelegenheit nicht einen vollständigen Katalog aller Spielarten aufstellen, in denen uns der Liberalismus entgegentritt, und mehr tun, als die kuriose Tatsache zu verzeichnen, dass sich eine konservative Partei in der Schweiz dieses selben Wortes bedient wie in den Vereinigten Staaten Politiker, die wir in Europa Sozialdemokraten nennen würden. Indem wir uns entschlossen auf die großen Linien beschränken, wollen wir eine überaus wichtige Unterscheidung vornehmen und von Liberalismus in einem doppelten Sinne sprechen: einerseits in dem ganz breiten und allgemeinen Sinne einer Idee, die im Grunde das Wesen abendländischer Kultur schlechthin ausmacht, anderseits in dem engeren und spezifischen Sinne einer geistigen, politischen und sozialen Bewegung des letzten Jahrhunderts, die aus jener allgemeinen Idee durch ganz bestimmte historische Zutaten hervorgegangen ist. In dem ersten Sinne sind wir alle Liberale, soweit wir die uns unersetzlich scheinenden Werte und Einrichtungen gegen jene zerstörenden Kräfte verteidigen, die wir als Kollektivismus, Totalitarismus oder Nationalsozialismus bezeichnen können. Nehmen wir aber den zweiten Sinn des Wortes, so erhebt sich die Frage, ob noch irgendeiner von uns ein Liberaler sein kann. Der Liberalismus ist im ersten Falle ein machtvoller Stamm, der ein ehrwürdiges Alter aufweist und unter dessen Laubdach wir uns alle heute in dem sicheren Gefühl zusammenfinden, dass wir etwas Gemeinsames zu verteidigen haben, mögen wir uns sonst auch Konservative oder Sozialisten, Demokraten oder Liberale, Protestanten oder Katholiken nennen. Im anderen Falle jedoch ist der Liberalismus nur der jüngste, wenn auch mächtigste Schössling an diesem Stamm, und mehr als einer fragt sich heute, ob er nicht ein wilder Schössling gewesen ist. Es wäre ein Verbrechen, den stolzen Stamm umhauen zu wollen, weil der Schössling nicht gefällt, aber tausend Äxte sind bereits am Werk, um diesen Frevel zu verüben.

Wenn wir zunächst vom Stamm, das heißt vom Liberalismus im weiteren und höheren Sinne sprechen, so weiß jeder, was gemeint ist, dem die Werte und Ideale, die er vertritt, so lebendig sind, dass er sie als die letzten und höchsten unserer Kultur zu verteidigen bereit ist. Wer dazu bis zum letzten entschlossen ist, wird diesen Stamm zugleich als das ehrwürdige Werk der Jahrhunderte, ja Jahrtausende verehren. Er wird wissen, dass es sich um ein Erbgut handelt, das bis zum Ursprung unserer abendländischen Kultur zurückreicht. Nicht die Philosophen der Aufklärung haben die Grundlage geschaffen, sondern die ionischen Griechen, die Männer der Stoa, Cicero und alle jene anderen Denker der Antike, die die auf der allgemeinmenschlichen Vernunft und die Absolutheit der Einzelseele gegründete Würde des Menschen, die Existenz eines Reiches der Ideen jenseits der Willkür der Menschen und die Unantastbarkeit von natürlichen Ordnungen vor und über dem Staate zu Leitsternen abendländischen Denkens gemacht haben. Was diese animae naturaliter Christianae begonnen, hat dann das Christentum vollendet und uns als das christliche Naturrecht überliefert.[3] Erst das Christentum hat die revolutionäre Tat vollbracht, die Menschen als Kinder Gottes aus der Umklammerung des Staates zu lösen und, um mit Guglielmo Ferrero zu reden, den «esprit pharaonique» des antiken Staates zu zertrümmern.

Immer und immer wieder hat man ja verwundert die Frage gestellt, wie es denn eigentlich komme, dass der politische Freiheitsbegriff der Antike ein so ganz anderer ist als der unsrige: dort der später bei Rousseau wiederkehrende und den modernen Demokratismus begründende Begriff der Kollektivfreiheit des «souveränen Volkes», der die völlige Unterwerfung des Individuums unter die Polis nicht widersprach — hier der abendländische Freiheitsbegriff der Rechte der menschlichen Person, die dem Staate Schranken setzen und zum Rechte des einzelnen, der Familie, der Minderheit, der Opposition und der universellen Glaubensgemeinschaften führen. Und immer wieder hat man darauf antworten müssen, dass die Mauer, die die Antike in diesem Punkte von uns trennt, das Christentum ist, dem wir den Satz verdanken: Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, aber Gott, was Gottes ist. Fügen wir alles hinzu, was das Christentum Gott unterstellt, so drückt dieser Satz im Grunde alles aus, was wir meinen, wenn wir vom Liberalismus im allgemeinen und umfassenden Sinne sprechen.

Wir haben es hier also, ohne allen Zweifel mit dem vereinten Erbgut der Antike und des Christentums zu tun. Beide sind die eigentlichen Ahnen des Liberalismus, weil sie die Ahnen einer Sozialphilosophie sind, die das spannungsreiche Verhältnis zwischen Individuum und Staat nach den Postulaten einer jedem Menschen eingepflanzten Vernunft und der jedem Menschen als Zweck und nicht als Mittel zukommenden Würde regelt und so der Macht des Staates die Freiheitsrechte des Einzelnen entgegensetzt. In diesem Sinne darf man sich unterfangen, aus Ciceros Schriften, aus dem Corpus Juris und aus den «Summen» des Thomas von Aquino ein noch heute zu beherzigendes Kompendium des Liberalismus zusammenzustellen, und noch immer tritt uns diese ehrwürdige Erbmasse aus der Soziallehre der katholischen Kirche durch alle Brechungen hindurch entgegen.

Nun liegt aber zweifellos in dieser Ideenwelt eine Kraft, die den Liberalismus in einem dialektischen Prozess immer wieder über sich selbst hinauszutreiben strebt. Diese Kraft ist der dem Liberalismus wesentliche Gedanke der Selbstbefreiung des Menschen durch den Appell an die Ratio: die Abwerfung von Bindungen, die Emanzipation des Menschen und die Herstellung seiner Autonomie. Im christlichen Naturrecht ist diese Kraft noch gebändigt, obwohl bereits in verschiedenen Richtungen der Scholastik rebellische Regungen nicht zu verkennen sind und uns ein Mann wie Abälard schon als Vorläufer eines Erasmus erscheinen will. Der Liberalismus erhält nun seinen modernen Zug im weiteren Verlaufe in dem Maße, wie er immer kühner, mit immer absoluterem Vertrauen in die Vernunft und mit immer ungeduldigerer Betonung der Individualrechte die Befreiung von Bindungen fordert, die von einer freien Vernunft verworfen werden. Je mehr er sich auf diesem Strome treiben lässt, umso mehr nähert er sich jenen gefährlichen Strudeln, die uns noch beschäftigen werden —, bis er schließlich von ihnen verschlungen wird.

Diese bedenklichen Ausläufer der Entwicklung dürfen aber nicht zu der Täuschung verführen, als seien die Übertreibungen gerade das dem Liberalismus Wesentliche. Liberalismus ist — um das ganz deutlich zu sagen — in seinem Wesen nicht ein Abfall vom Christentum, sondern sein legitimes geistiges Kind, und nur eine außerordentliche Verkürzung der historischen Perspektiven kann zu der Verwechslung von Liberalismus und Libertinismus verleiten. Er verkörpert vielmehr im Bereiche der Sozialphilosophie das Beste, was uns drei Jahrtausende abendländischen Denkens zu überliefern vermochten, Humanität, Naturrecht, Kultur der Persönlichkeit und universelle Weite, und wenn man nicht immer gewusst hat, wieviel von der Glaubenskraft des Christentums selbst noch in den Radikalsten der spätliberalen Kritiker und Rationalisten nachgewirkt hat, so sind wir Heutigen uns doch völlig darüber klar geworden.

Aber der Liberalismus ist ebenso wenig ein starres Dogma. Er ist vielmehr eine immer rege Kraft, die das Abendland wieder und wieder vor der Erstarrung bewahrt und in immer wachsamer Entlarvung der Lüge und Vergewaltigung des Menschen für die Aufrechterhaltung der Spannung zwischen Freiheit und Bindung gesorgt hat, die den Ruhm und die Gefahr unserer Zivilisation ausmacht. Je nach dem Grade der Unbekümmertheit, in der man sich durch diese Kraft treiben lässt, ergeben sich alle jene Stufen des Liberalismus, die uns an dem einen Ende zweifeln lassen, ob wir es nicht bereits mit Konservatismus, und am anderen, ob wir es nicht bereits mit Anarchismus zu tun haben.

Wenn wir uns dieser reichen Skala der Möglichkeiten des Liberalismus bewusst bleiben, können wir es nunmehr wagen, seine wesentlichsten Merkmale aneinanderzureihen und miteinander zu verknüpfen. Was ist der Liberalismus? Er ist humanistisch. Das heißt: er geht von der zum Guten fähigen und erst in der Gemeinschaft sich erfüllenden Natur des Menschen, von seiner über seine materielle Existenz hinausweisenden Bestimmung und von der Achtung aus, die wir jedem als Menschen in seiner Einmaligkeit schuldig sind und die es verbietet, ihn zum bloßen Mittel zu erniedrigen. Er ist daher individualistisch oder, wenn man das lieber hört, personalistisch. Das heißt: entsprechend der christlichen Lehre, dass jede Menschenseele unmittelbar zu Gott ist und als ein geschlossenes Ganzes zu ihm eingeht, ist die einzelne menschliche Person das letztlich Wirkliche, nicht aber die Gesellschaft, so sehr der Mensch nur in der Gemeinschaft, in ihrem Dienst und möglicherweise in der Aufopferung für sie die ihm gesetzte Erfüllung finden kann.[4] Der Liberalismus ist daher anti-autoritär. Das heißt: bei aller Bereitschaft, dem Kaiser zu geben, was des Kaisers ist, hütet er sich klug vor jeder Gemeinschaftsromantik, die die staatliche Organisation zum Gegenstand eines mystischen Kultes, zu einer Art von Supraorganismus oder gar zum Gott macht, und ebenso widerstrebt er männlich dem Kaiser, wenn er mehr fordert als was des Kaisers ist. Der Liberalismus ist daher universal. Das heißt: indem er humanistisch, personalistisch und antiautoritär ist und den Menschen als solchen respektiert, während er sich vor der Vergottung des Staates hütet, widerstrebt er der Übersteigerung des Patriotismus zum Nationalismus und damit dem Machiavellismus und Imperialismus. Mit alledem ist er schließlich rationalistisch in dem zunächst noch nicht kritisch gemeinten Sinne, dass der Liberale als Humanist allen Menschen die nämliche Vernunft zuschreibt, als Personalist in ihr «des Menschen allerbeste Kraft» sieht, als antiautoritärer und universaler Sozialphilosoph aber die Vernunft zum Richter macht, vor dem sich die Torheiten, Lügen und Bosheiten der Menschen zu verantworten haben.

Fast unerschöpflich sind die Fragen, die sich an jeden dieser Kernpunkte des Liberalismus knüpfen. Nur einen unter ihnen wollen wir zu weiterer Prüfung herausgreifen, weil wir so Gelegenheit erhalten, manche Verwirrung zu lösen und das Verwandtschaftsverhältnis des Liberalismus zum Demokratismus zu bestimmen. Wenn wir den Liberalismus unter anderem als wesentlich antiautoritär bezeichnen, so wollen wir damit das nie ganz zu überwindende Misstrauen ausdrücken, dass der echte Liberale zu allen Zeiten jeder Machthäufung, der politischen, geistigen, oder wirtschaftlichen, entgegenbringt. Der von Jacob Burckhardt Schlosser nachgesprochene Satz, dass die Macht an sich böse sei, bringt in einer Zuspitzung einen echt liberalen Gedanken zum Ausdruck. Katholische Liberale wie A. de Tocqueville und Lord Acton haben darüber nicht anders als jene protestantischen gedacht.[5]

Daraus ergibt sich zunächst, dass der dem Liberalismus oft gemachte Vorwurf einer optimistischen Beurteilung der Menschennatur auf einem Irrtum beruht. Nicht der Optimismus eines Rousseau, der gerade dadurch zu seinen antiliberalen Folgerungen gelangt, entspricht dem Liberalismus, sondern die allen Möglichkeiten Raum lassende Skepsis Pascals: «L’homme n’est ni ange ni bête, et le malheur veut que qui veut faire l’ange fait la bête». Wie Pascal glaubt auch der Liberale sowohl an die «grandeur» wie an die «bassesse» des Menschen, und da er mit beidem rechnet, so geht sein ganzes Streben dahin, die Menschen nach Möglichkeit unter Bedingungen zu setzen, die ihnen weder Anreiz noch Gelegenheit geben, ihren irdischen Trieben ungehemmten Lauf zu lassen. Er glaubt nicht, dass ein Gesellschafts- und Wirtschaftssystem praktisch sei, welches Heilige oder Helden voraussetzt, sondern nur ein solches, das mit den Menschen rechnet, wie sie bestenfalls im Durchschnitt sind. Er ist alles andere als ein Moralist, der den Wagen der Tugend auch durch den tiefsten Morast zwingen möchte und nicht sieht, dass man es den Menschen nicht zu schwer machen darf, womit der Liberale sich durchaus in Übereinstimmung mit der Moraltheologie, aber keineswegs mit dem Optimismus eines Rousseau als einer wirklichen Häresie befindet. Er ist ein Realist, der sich nicht über «schwarze Märkte» wundert, wenn zuvor eine «schwarze Finanzpolitik» der Inflation treibenden Regierungen die Bedingungen dafür geschaffen hat. Er glaubt, dass die Welt immer noch am besten fährt, wenn es so eingerichtet wird, dass «dem Ochsen, der da drischet, das Maul nicht verbunden wird» (5. Mose, 25, 4), und das Eigeninteresse durch kluge Einrichtungen nach Möglichkeit dem Gesamtinteresse koordiniert wird. Für eine solche glückliche Einrichtung hält er das Eigentum, für eine andere nicht minder glückliche die Konkurrenz, sofern sie wirklich für jene Koordinierung sorgt, und schließlich für eine ebenso glückliche das System von Sanktionen und Belohnungen, das einem solchen auf Eigentum, Selbstverantwortung und Konkurrenz beruhenden Wirtschaftssystem entspricht. Der Liberale hält das alles für praktisch, nicht weil er Optimist, sondern weil er Realist ist. Ein französischer Philosoph schreibt: «Tout système social qui contribue à rendre nécessaires, pour la majorité des hommes et dans la conduite ordinaire de leur vie, des vertus essentiellement aristocratiques, s’avère par là malsain».[6] Vielleicht hat er nicht gewusst, dass er damit die Quintessenz der liberalen Sozialethik formuliert hat.

Der Liberale misstraut nun deshalb jeder Machthäufung, weil er weiß, dass jede Macht, die nicht durch Gegengewichte in Schranken gehalten wird, früher oder später missbraucht wird. Um die Freiheit des Menschen zu retten, sieht er nur ein einziges wirksames Mittel: die Zerstreuung der Macht und die Schaffung von Gegengewichten.

So kann der Liberalismus durchaus auch als Dezentralismus und alles, was sich als Nationalismus, Absolutismus, autoritärer Konservatismus oder Kollektivismus zum gegnerischen Lager rechnet, als Zentralismus bezeichnet werden, und vielleicht wäre es kein schlechter Vorschlag, diese klaren Ausdrücke in Zukunft recht häufig zu verwenden. Man würde dann besser wissen, wohin ein jeder eigentlich gehört, und die heutige Verwirrung der Begriffe ein wenig vermindern.

Wenn damit der Liberale die Dezentralisation in allen Sphären zum Programm erhebt, so handelt er aus einer Weisheit, die alle menschliche Erfahrung für sich hat. So wird er zum Anwalt der Trennung der Gewalten, des Föderalismus, der Gemeindefreiheit, der staatsfreien Sphären, der «corps intermédiaires» (Montesquieu), der geistigen Freiheit, des Eigentums als der Normalform der wirtschaftlichen Existenz des Menschen, der wirtschaftlichen und sozialen Dezentralisation, des Kleinen und Mittleren, des wirtschaftlichen und geistigen Wettbewerbes, der kleinen Staaten, der Familie, der Universalität der Kirchen, der Gliederung. So wird er zum unversöhnlichen Gegner des politischen, wirtschaftlichen und geistigen Zentralismus, des Kolossalen, der Monopole, der Mammutgebilde, der Massenbildung, der Riesenstädte, der Akkumulation des Reichtums, des Imperialismus.

Damit ist aber auch das Verhältnis des Liberalen zur Demokratie näher bestimmt. Es ist ein solches enger Verwandtschaft, das aber nicht frei von Spannungen ist. Diese können sich zur offenen Gegnerschaft steigern, wenn — um mit Montesquieu zu reden — die Gefahr besteht, die Macht des Volkes mit seiner Freiheit zu verwechseln.[7] Nicht als ob es nicht durchaus dem Wesen des Liberalen entsprechen würde, in der Zustimmung der Bürger die einzige legitime Quelle der Souveränität des Staates zu sehen und sich zu dem Satze Lincolns zu bekennen: «No man is good enough to govern another man without that other’s consent.»[8] In diesem Sinne ist der Liberale auch zugleich Demokrat. Aber da er von der menschlichen Person und ihren Freiheitsrechten ausgeht, so liegt ihm nicht nur daran, wer der Träger der Macht ist, sondern auch daran, dass sie nicht zur Tyrannis wird.[9] Gerade das aber fürchtet der Liberale von der Demokratie noch mehr als von jeder anderen Regierungsform, weil der Rausch der Massen und der mystische Glaube, dass das Volk sich selbst nicht knechten könne, leicht Bremsen ausschalten, die sonst wirksam wären, und einen solchen auf der bloßen Masse beruhenden Staat zum hemmungslosen Tyrannen im Innern und zu einem lärmenden Kriegshaufen nach außen machen können.

Der Liberale hält es mit Montesquieu und nicht mit Rousseau, mit dem «Esprit des Lois» und nicht mit dem «Contrat Social», das ein anderer großer Denker des Liberalismus, Benjamin Constant, «le plus terrible auxiliaire de tous les genres de despotisme» genannt hat.[10] Unfähig in seiner realistischen Anthropologie, den der demokratischen Mystik zugrunde liegenden Glauben am «peuple sage et vertueux» zu teilen, und misstrauisch gegenüber der Machthäufung gerade dann, wenn jeder Missbrauch noch von der Gloriole der Souveränität des Volkes verklärt erscheint und der tyrannische Staat jederzeit das demokratische Alibi vorweisen kann,[11] weiß der Liberale auch hier nur einen Weg: den der Gegengewichte und der Dezentralisation. Gegen die Gefahr des Jakobinismus wird er einen Damm an Einrichtungen bauen, die alle den Stempel des Liberalismus tragen, weil sie dahin wirken, den Menschen gegen die großen Machtklumpen zu schützen. Die gesündesten und standfestesten Demokratien sind heute denn auch diejenigen geblieben, die sich auf solche ausgleichenden und verankernden Einrichtungen und Überlieferungen haben stützen können: auf die Begrenzung der Parlamentsherrschaft, die föderative Staatsstruktur, die Gemeindefreiheit, das Zweikammernsystem, die strenge Gewaltenteilung, eine reiche gesellschaftliche Gliederung, die Monarchie oder ein starkes Präsidialsystem, vor allem aber auf den unerschütterlichen Gedanken des Rechtsstaates und auf einen Geist, der die Freiheit nicht der Gleichheit zu opfern bereit ist. Es sind Demokratien, in denen die demokratische Frage der Bestimmung des Trägers der Macht und die liberale Frage der Bestimmung ihres Inhalts gleich wichtig genommen werden.

Die dem Jakobinismus zugrunde liegende Konfusion der Macht des Volkes mit seiner Freiheit findet ihr geistiges Gegenstück in der Vermengung von Liberalismus und Demokratismus. So kann es dahin kommen, dass man den Liberalismus zu Unrecht für Dinge verantwortlich macht, die in Wahrheit der Demokratie zur Last fallen. Unter anderem hat man sich leider daran gewöhnt, den modernen Nationalismus, der uns so viel Unheil gebracht hat, für eine natürliche Folge des liberalen Gedankens zu halten, während man in Wahrheit natürlich den Demokratismus — und dies mit schonungsloser Offenheit — der Vaterschaft an diesem Wechselbalg anklagen muss. Dass sich Liberale selbst dieser Konfusion schuldig machen können, lehrt mit besonderer Deutlichkeit die Rolle, die der deutsche «Liberalismus» oder das, was sich mit diesem Namen belegte, in der Entwicklung des deutschen Nationalismus im 19. Jahrhundert gespielt hat.[12]

Kritik am vergänglichen Liberalismus

Und damit sind wir nun bei der wichtigsten Frage angelangt, die gerade den, der sich zu dem hohen und dem Streit der Parteien oder Konfessionen entrückten Gedankengut eines säkularen Liberalismus bekennt, am meisten beschäftigen muss und oft genug daran irre werden lässt, ob er sich heute eigentlich noch als einen Liberalen bezeichnen darf: Was ist aus dieser großen Überlieferung in den letzten zwei Jahrhunderten geworden? Welches sind die Schösslinge, die an unserem Stamm gewachsen sind?

Wir haben jetzt schonungslos von Irrtum und Verwirrung zu reden und uns eingehend davon zu überzeugen, dass die heutige Krisis des Liberalismus Teil einer Gesamtkrisis der modernen Gesellschaft ist, an der er durch seine Irrwege mitschuldig geworden ist. Ein gewaltiges Thema. Da wir uns trotzdem der äußersten Kürze befleißigen müssen, wollen wir einige uns wesentlich scheinende Gedanken an drei Hauptproblemen aufreihen. Sie betreffen erstens das Verhältnis des Liberalismus zu den Funktionen der Vernunft, zweitens sein Verhältnis zur Gemeinschaft und drittens dasjenige zum Wirtschaftsleben. Danach tritt uns der Liberalismus nacheinander als Rationalismus, Individualismus und Wirtschaftsliberalismus entgegen, und wir haben zu untersuchen, auf welche verhängnisvollen Abwege er sich dabei begeben hat.

Was zunächst den Rationalismus betrifft, so habe ich bei dieser Gelegenheit wenig dem hinzuzufügen, was ich darüber an anderer Stelle in meinen Büchern «Die Gesellschaftskrisis der Gegenwart» und «Civitas humana» gesagt habe. Kaum irgendwo sonst tritt uns so wie hier die gefährliche Ambivalenz des Liberalismus entgegen, die zwar gegen ihn so wenig wie gegen alle anderen Bestrebungen der Menschen spricht, es mutig mit den ewigen Spannungen unserer Existenz aufzunehmen, aber nun eben doch in den letzten Jahrhunderten zu Verirrungen geführt hat, deren unermesslichen Folgen wir uns erst heute ganz bewusst werden. Und kaum irgendwo sonst wird uns so klar wie im Übermut des liberalen Rationalismus, wie leicht die befreiende Funktion des Liberalismus in eine auflösende und ihn schließlich selbst aufhebende umschlägt. Die Vernunft, «des Menschen allerbeste Kraft», ist das wärmende Zentralgestirn abendländischer Kultur, und der Appell an sie als das, was den Menschen erst zum Menschen macht, was sie alle nicht in der animalischen Tiefe, sondern in der geistigen Höhe vereinigt und was unserem Urteil den Maßstab liefert, wird immer der beste Teil des Liberalismus bleiben. Aber wir stürzen gleich Phaëton in die Tiefe, wenn wir in unserer Hybris dieser Sonne zu nahe kommen und der Schranken nicht achten, die dem Gebrauch der Vernunft gesetzt sind. Dann wird der Liberale zu dem Rationalisten, der keine objektiven Satzungen mehr anerkennt, der in freiem, beliebigem Denken alles in Frage zieht, alles Gewordene auflöst, immer als ein ewiger Revolutionär glaubt von vorne anfangen zu können, der nichts mehr weiß von der «Liebe Gottes, die höher ist denn alle Vernunft», aber auch nichts mehr davon, dass der Mensch in Geschichte und Natur eingebettet ist und sich über sie nicht mit jenem technisch-naturwissenschaftlichen Verstände hinwegsetzen kann, der uns schließlich in der Atombombe die Macht gegeben hat, unsere Zivilisation in wenigen Minuten zu vernichten, während dieser selbe Rationalist den Gesetzen der Seele und der Gesellschaft als hilfloser und zudem noch arroganter Tor gegenübersteht. Dann kommen wir zu einer Toleranz, die nicht mehr weise Demut und großmütiges Geltenlassen im sicheren Besitze der Wahrheit ist, sondern unmännliches Geschehenlassen, ewig schwankender Opportunismus, zynische Skepsis und dekadentes Verzweifeln an der Wahrheit. Das ist die Toleranz, die ein Franzose des 19. Jahrhunderts, Louis Veuillot, geistreich mit den Worten verspottet hat: «Quand je suis le plus faible, je vous demande la liberté parce que c’est votre principe; mais quand je suis le plus fort je vous l’ôte parce que tel est le mien». Es ist dieselbe Toleranz, von der jüngst einer gesagt hat: «Le mari tolérant est un vilain monsieur»! Dann kommen wir zu einem Relativismus, der alle Werte und Normen in der Säure des nur noch sich selbst setzenden Verstandes auflöst, zu einem Materialismus, der vom «geistigen Überbaue der materiellen Produktionsverhältnisse» spricht, zu einem Psychologismus, der die Ideen als Schlammblasen des Trieblebens entlarven zu können meint, zu einem Positivismus, der am Recht, zu einem Ästhetizismus, der am objektiv Schönen, zu einem Pragmatismus, der am objektiv Guten und Bösen, zu einem Ideologismus, der am Ideellen zweifelt. Wir gelangen dann von einem Bürgertum, in dem sich, wie in den stolzesten Perioden der europäischen Geschichte, die vorwärtstreibenden Kräfte mit den bewahrenden vereinigen sollen, zu einer Bourgeoisie, die alle Anzeichen der Dekadenz offenbart. Bis dann einmal der Augenblick kommt, da diese innerlich ausgehöhlte und nur noch mit einigen Phrasen mühsam gestützte Welt von einem terrible simplificateur vollends zum Einsturz gebracht und die liberale Zivilisation von der illiberalen Hölle abgelöst wird, die bloße Barbarei zu nennen eine Beleidigung der braven Wilden wäre.

 Wir erkennen leicht, welche Früchte dieser Schössling des Liberalismus tragen muss, wenn er politischen Einfluss gewinnt. Weil es einer solchen naturwissenschaftlich-mathematischen Logik am Sinn für die historische Vernunft und für das durchaus ungeometrische Wesen der Gesellschaft gebricht, wird sie zur Mutter des revolutionären Denkens, das zu dem vermessenen Glauben führt, dass man den Menschen und die Gesellschaft «machen» könnte, wie man eine Maschine oder eine Atombombe macht. Der Mensch als homo faber bemächtigt sich dann uns armer Menschenkinder, um uns zu Objekten moralischer, politischer oder wirtschaftlicher Experimente und Pläne zu machen, die sich irgendein frecher Tor anmaßt, und dann werden wir zu Opfern von jenen gefährlichsten aller Individuen, die uns für Pferdekräfte, Katalysatoren, Moleküle, Zuchtvieh oder Meerschweinchen halten, was wir uns energisch im Namen einer Philosophie verbitten, die ebenso gut Humanismus wie Christentum wie echter Liberalismus genannt werden kann. Weil dieser rationalistischen Logik aber auch das Verständnis für jene subtilen Bedingungen des menschlichen Glücks abgeht, die sich aus unserem Verhältnis zur Natur, zu unserer Arbeit und zu den echten Gemeinschaften ergeben, entspringt aus ihr das Unvermögen eines urbanistischen Denkens, die Gestalt einer natürlichen Ordnung der Dinge zu erkennen und in unseren Großstädten, unseren Fabriken und unseren Proletariermassen etwas anderes als Merkmale des Fortschritts und Mittel zur Steigerung der Produktivität zu erblicken.

Und nun sehen wir, wie ein solcher Rationalismus zugleich das wahre Verhältnis des Menschen zur Gesellschaft verzerren muss. Wenn wir eine solche Verzerrung als Individualismus zu bezeichnen uns entschließen, so erkennen wir, dass sein verhängnisvoller Fehler doppelter Art ist. Erstens verkennt er eine Wahrheit, die weniger mit der Tönniesschen Gegenüberstellung von «Gemeinschaft und Gesellschaft», als mit der Erkenntnis erfasst werden kann, dass die Gesellschaft ein Ganzes und etwas anderes ist als die Summe aller Teile, und dass es ein Normalmaß der sozialen Integration, der Eingliederung dieser Teile, gibt, das einer gesunden Gesellschaft entspricht und allein das Gleichgewicht von Freiheit und Ordnung verbürgt. Indem ein liberaler Individualismus gegen diese Erkenntnis blind war, hat er der Auflösung unserer modernen Gesellschaft den mächtigsten Vorschub geleistet. Damit verknüpft sich ein weiterer, nicht minder unheilvoller Fehler, der uns bereits auf dem Schuldkonto des Rationalismus begegnet ist und hier auf demjenigen des Individualismus wiederkehrt. Wer nämlich die Gesellschaft für einen einfachen Verband von Individuen hält, der mit dem logischen Verstände des einzelnen zu erfassen ist, wird unvermeidlicherweise zu dem Schlüsse verführt, erstens, dass nichts in der Gesellschaft geduldet werden sollte, was nicht in das klare Bewusstsein der einzelnen tritt, nichts, was das ungeplante, spontane und unbewusste Ergebnis ungezählter Einzelakte ist wie etwa der Eisenpreis, der Devisenkurs oder der Kapitalzins, und zweitens, dass der menschliche Verstand ausreicht, das Ganze der Gesellschaft und Wirtschaft nicht nur zu begreifen, sondern auch nach einem bewussten Gesamtplan zu lenken.[13]

Mit dieser letzten Konsequenz eines am Stamme des Liberalismus gewachsenen Individualismus hat sich nun etwas höchst Merkwürdiges ereignet: Der Liberalismus hebt sich selbst auf und wird zum Kollektivismus, noch immer im Namen der Vernunft und des Individuums, in Wahrheit aber unter Pervertierung aller echten und ursprünglichen Ideale des Liberalismus, bis wir schließlich im Marxismus zu der heute vorherrschenden Form des Kollektivismus gelangen, der ihr Begründer — der «rote Preuße» — so sehr den Stempel seines durchaus antiliberalen Geistes aufgedrückt hat, dass die Geschichte des Sozialismus seitdem zur Geschichte eines fortgesetzten inneren und äußeren Kampfes zwischen zwei unversöhnlichen Prinzipien mit allen seinen Qualen und Verwirrungen geworden ist. Sie ist die Geschichte von Menschen, die nie recht zu wissen scheinen, wohin sie eigentlich gehören.

Damit haben wir das dritte Problem berührt: die wirtschaftlichen Konsequenzen des Liberalismus. Hier könnten viele Missverständnisse und Zänkereien vermieden werden, wenn man sich auf allen Seiten — auch im Lager der Liberalen — darüber klar würde, dass das Ideal des sogenannten wirtschaftlichen Liberalismus, nämlich die freie Marktwirtschaft, keineswegs zu den primären Zielen des geistigpolitischen Liberalismus gehört. Effektenbörsen, Zins oder freie Devisenmärkte sind keine Endzwecke, für die es sich lohne, auf die Barrikaden zu steigen. Man kann sich sehr wohl eine liberale Gesellschaft vorstellen, die im Wesentlichen aus selbstgenügsamen Bauern besteht und weder Effektenbörsen noch Banken noch auch Devisen kennt, und möglicherweise wäre das die beste von allen. Dass eine solche Vorstellung möglich ist, klärt manche Verwirrung und zeigt, dass allgemeiner und wirtschaftlicher Liberalismus — «liberalismo» und «liberismo» in der Sprache Croces — nicht dasselbe sind oder notwendigerweise miteinander zusammenhängen. Das ändert aber nichts daran, daß in einer hochentwickelten arbeitsteiligen Wirtschaft, wie der heutigen, die Marktwirtschaft allein die bestimmende wirtschaftliche Ordnung sein kann, die die Wahrung der Ideale des geistig-politischen Liberalismus erlaubt, während der Kollektivismus notwendigerweise das liberale Staats-, Rechts- und Kultursystem zerstören muss, auch dann, wenn er nicht von der unsympathischen Gattung der antiliberalen, sondern von der sympathischen der liberalen Sozialisten durchgeführt wird. Für den Liberalen wie für den liberalen Sozialisten handelt es sich in dieser Frage der Wirtschaftsordnung nur um das Instrument, das den ihnen gemeinsamen überwirtschaftlichen Zielen entspricht. Darüber aber, dass in diesem Streite der nichtsozialistische Liberale recht hat, kann so lange kein Zweifel herrschen, als wir von denjenigen Sozialisten, die sich noch immer nicht davon überzeugen wollen, bestenfalls nichts als unentwegte Beteuerungen und schlimmstenfalls nichts als Äußerungen schlechter Laune hören.[14] Die Zahl derjenigen Sozialisten, mit denen ein schließlicher Friedensschluss möglich ist, wird nun umso größer sein, je mehr der Liberale bereit ist, die schweren Fehler eines wirtschaftlichen Liberalismus hervorzuheben, der den Gedanken der Marktwirtschaft in einer heute als unhaltbar erwiesenen Form vertreten hatte, und sich mit den Sozialisten in der Kritik der Verhältnisse weitgehend zu vereinigen, die sich daraus ergeben haben.

Ein solcher Friedensschluss sollte auch auf beiden Seiten durch die Einsicht erleichtert werden, dass Liberale und liberale Sozialisten so viele Ahnen gemeinsam haben, und dass sie beide an einer Welt gezimmert haben, die heute zusammenbricht und in ihrem Zusammenbruch mitreißt, was beiden gleich teuer sein muss. Damit aber ist eine Lage entstanden, in der nicht nur die Liberalen und liberalen Sozialisten, sondern auch alle anderen, die sich zum Erbgut des säkularen Liberalismus, wenn auch keineswegs zu diesem Namen selbst, bekennen, in eine große gemeinsame Front gezwungen werden. Hat man das erkannt, so hat man einen Standpunkt erklommen, der hoch hinausführt über die Streitigkeiten des Tages mit ihren verblichenen Schlagworten, Namen und Ideologien. Diese Höhe aber erklimmen wir nur, wenn wir sehr viel unnütz und lästig gewordenes Gepäck zurücklassen und uns nach strengster Musterung auf das Wesentliche beschränken. Wahrscheinlich werden wir dann feststellen, dass sich die meisten von uns für die geistige Ausrüstung entschieden haben, die wir als das Kulturideal des Liberalismus bezeichnet und beschrieben haben. Dass manche es anders nennen, tut nichts zur Sache.

* Röpke hat die Schrift später als erstes Kapitel in „Maß und Mitte“ (1950) übernommen.

[1] So in seinem Buche «Heretics» (London, 1905).

[2] O. Spengler, Preußentum und Sozialismus, 1920, Seite 34.

[3] Wenn Ernst Troeltsch (Naturrecht und Humanität in der Weltpolitik, Weltwirtschaftliches Archiv, 1922—1923, Seite 489) sagt, dass die antike Ideenwelt vom Christentum «als Ergänzung seiner auf das Jenseits und das Weltende gerichteten, gegenüber den praktisch-sozialen Problemen hilflosen Ethik rezipiert» wurde, so kann das missverstanden werden. Es war ein Glück, dass die Bibel nicht gleich dem Koran einen starren Sozialkodex enthält, denn nur so ist uns die theokratische Erstarrung der islamischen Welt erspart geblieben. Dafür aber hat das Christentum die antike Überlieferung der Sozialphilosophie nicht bloß «rezipiert» oder konservativ abgebremst, sondern durch seine Heilslehre auf eine ganz neue und dauerhafte Grundlage gestellt.

[4] Vgl. hierzu jetzt die interessante Schrift von E. Grassi, Verteidigung des individuellen Lebens, Bern 1947, der aus der humanistischen Überlieferung den Irrtum widerlegt, als bedeute wahrer Individualismus die Isolierung des Subjekts gegenüber der Gemeinschaft.

[5] Dem Satze Schlossers und Burckhardts lässt sich derjenige von Lord Acton gegenüberstellen: «Power tends to corrupt, and absolute power corrupts absolutely» (Historical Essays and Studies, London 1907, Seite 504). Derselbe Gedanke ist von einem anderen großen Liberalen des 19. Jahrhunderts, Gladstone, in folgenden Sätzen formuliert worden: «The first lesson of history is that liberty depends on the division of power. The danger is not that a particular class is unfit to govern — every class is unfit to govern… True liberty depends on the multiplicity of checking forces». (Nach Mary Drew, Acton, Gladstone and Others, Zit. im «Daily Telegraph» vom 12. Dez. 1946.)

[6] Gustave Thibon, Diagnostics, Paris 1942, Seite 153.

[7] «Comme dans les démocraties le peuple paraît à peu près faire ce qu’il veut, on a mis la liberté dans ces sortes de gouvernements, et on a confondu le pouvoir du peuple avec la liberté du peuple» (Montesquieu, Esprit des Lois, Buch XI, Kap. II).

[8] Dass es sich auch hier um altes Erbgut abendländischen Denkens handelt, beweist die enge Verwandtschaft, die zwischen der modernen demokratischen Theorie der Legitimität und dem Gedanken des «Widerstandsrechts» besteht, der dem mittelalterlichen Staatsdenken im Abendland durchaus wesentlich war und nicht geringe praktische Bedeutung gehabt hat. Vgl. dazu vor allem: Fritz Kern, Kingship and Law in the Middle Ages, Oxford 1939 (englische Neuauflage seines 1914 erschienenen Werkes «Gottesgnadentum und Widerstandsrecht im früheren Mittelalter»).

[9] «C’est le degré de force, et non les dépositaires de cette force qu’il faut accuser. C’est contre l’arme et non contre le bras qu’il faut sévir. Il y a des masses trop pesantes pour la main des hommes». (B. Constant, Oeuvres politiques, Ed. Louandre, Paris 1874, Seite 311.

[10] B. Constant, a. a. O., Seite 5.

[11] Nur aus dieser demokratischen Mystik ist der absurde Gedanke des modernen Sozialismus zu erklären, dass man die Trennung des Arbeiters von den Produktionsmitteln durch die Verstaatlichung der Fabriken aufheben könne.

[12] Das Gift des Nationalsozialismus wurde in Deutschland deshalb so besonders virulent, weil hier der demokratische Impuls der französischen Revolution sich mit demjenigen der Romantik verband. Unter diesem Gesichtspunkt verdient insbesondere Treitschkes Entwicklung von dem Essay «Die Freiheit» (1861) bis zum Herolden des großpreußischen Nationalismus eine eingehende Analyse. Vgl. dazu: Hans Kohn, Prophets and Peoples, New York 1946, Seiten 105 bis 130. 527

[13] Vgl. F. A. Hayek, Individualism: True and False, Oxford 1946, und von demselben, The Use of Knowledge in Society, American Economic Review, September 1945.

[14] Der Umstand, dass selbst ein Autor wie J.A. Schumpeter (Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, Bern 1946) mit seinem Versuch, die sozialistische These einigermaßen zu retten, gescheitert ist, unterstreicht dieses Urteil. Vgl. dazu meine Besprechung in «Erasmus» I, Nr. 1, und den oben erwähnten Aufsatz von F. A. Hayek, The Use of Knowledge, a. a. O.

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