Deutschlands Verteidigungspolitik neu ausrichten: agiler, moderner, souveräner

_ Jurij Kofner, Ökonom, MIWI Institut für Marktintegration und Wirtschaftsforschung. München, 29. Juni 2021.

Verteidigungsausgaben

Auf Druck der Vereinigten Staaten[1] einigten sich die Verteidigungsminister der NATO-Staaten 2006 in Riga darauf, dass alle Mitgliedstaaten ihre Militärausgaben auf mindestens 2 Prozent des BIP erhöhen sollten.[2]

Die offizielle Rechtfertigung lautet, dass alle NATO-Mitglieder gemeinsam und „solidarisch“ für das „Gemeinwohl“ der transatlantischen Sicherheit sorgen sollen, da die Vereinigten Staaten traditionell und mit Abstand die höchsten Verteidigungsausgaben von 3,5 bis 4 Prozent des BIP haben.

In Wirklichkeit aber, entspricht diese Forderung vor allem der neuen US-Militärdoktrin „Leading from Behind“, wonach der größere Teil der Kosten der US-amerikanischen Vorherrschaft im Ausland von den europäischen Verbündeten getragen und finanziert werden soll.[3] Die Tatsache, dass die derzeitige US-Außenverteidigungspolitik weitgehend nicht den nationalen Interessen Deutschlands entspricht, zeigt sich jedoch vor allem in den Gründen und Folgen der Migrationskrise.

Die wichtigsten Quellenländer von Asylbewerbern in Deutschland sind Syrien, Afghanistan, Irak, Türkei, Nigeria, Somalia, Iran und Eritrea. Es ist bemerkenswert, dass die Vereinigten Staaten in den letzten Jahren militärische Interventionen, Regimewechseloperationen oder Sanktionen gegen die meisten genau dieser Länder durchgeführt haben.

Eine einschlägige Studie des amerikanischen Watson Institute kam zu dem Schluss, dass US-amerikanische Militärinterventionen in Afrika und im Nahen Osten seit 2001 mehr als 8 Millionen Flüchtlinge gewaltsam vertrieben haben (sogar 37 Millionen, wenn man Binnenvertriebene mit einbezieht).[4] Ein Großteil dieser Flüchtlingsstrome endet in Deutschland, wo allein zwischen 2014 und 2019 über 2 Mio. Asylanträge gestellt wurden (40 Prozent der in der EU gestellten 5,1 Mio. Asylanträge).

Leider unterstützt die Bundesregierung im Rahmen der NATO und der gemeinsamen Sanktionspolitik genau diese destruktive US-Außenpolitik.

Nach den Angaben des Stockholmer Internationalen Friedensforschungsinstituts (SIPRI) betrugen die deutschen Militärausgaben durchschnittlich 1,2 Prozent des BIP (durchschnittlich 37,4 Milliarden Euro pro Jahr). Von 2014 bis 2019 sind diese um fast ein Fünftel auf 44,8 Milliarden Euro gestiegen. Zum Vergleich: Im Bundeshaushalt 2019 beliefen sich die kombinierten Ausgaben für Bildung, Forschung und Gesundheit auf nur 32,8 Mrd. Euro.[5] Das deutsche Verteidigungsbudget kostet jeden Steuerzahler durchschnittlich über 1000 Euro pro Jahr.

Und trotzdem fordert Washington, dass Berlin sein Engagement von 1,2 auf 2 Prozent des BIP erhöht.[6] Nach Berechnungen des IW Köln müsste die Bundesregierung für die Jahre 2021 bis 2024 dann zusätzlich 86 Milliarden Euro mehr ausgeben, um das NATO-Ziel in diesem Zeitraum konsequent zu erreichen.[7] Das wären durchschnittlich 21,5 Milliarden Euro pro Jahr oder etwas mehr als ein zusätzlicher jährlicher Haushaltsaufwand für das Bundesministerium für Bildung und Forschung. Das Erreichen des 2-Prozent-Ziels der NATO würde eine Erhöhung der jährlichen Belastung für jeden Steuerzahler um fast 600 Euro bedeuten. In diesem Fall würde die durchschnittliche Steuerbelastung nur für militärische Zwecke 1.615 Euro pro Steuerzahler und Jahr betragen.

Eine kürzlich erschienene Studie des Kieler Instituts für Weltwirtschaft[8] argumentiert, dass Berlin seine Ausgaben für offizielle Entwicklungshilfe, sowie die Kosten für die Teilnahme an transatlantischen Sanktionen seinen Verteidigungsausgaben anrechnen sollte. Würde man dies tun, dann wäre die NATO-2-Prozent-Hürde bereits ab 2016 erreicht worden.  Wenn man die fiskalischen Belastungen für die Bewältigung der Flüchtlingskrise hinzufügt, für die, wie oben ausgeführt, die aggressive US-Außenpolitik im Nahen Osten und in Afrika maßgeblich verantwortlich ist, dann belaufen sich die kumulierten durchschnittlichen Wohlfahrtskosten für Deutschland sogar auf 3,2 Prozent BIP zwischen 2016 und 2019.[9]

Neue Verteidigungspolitik

Nach Meinung des Autors sollten über eine durchschnittliche jährliche Einsparung von 5,4 Milliarden Euro die Militärausgaben von 1,2 auf 1 Prozent des BIP gesenkt und konsolidiert werden. Solch eine Einsparung würde jeden deutschen Steuerzahler jährlich um fast 150 Euro entlasten.

Dies basiert auf der realistischen Einschätzung, dass die Bundeswehr unter den geostrategischen Bedingungen des 21. Jahrhunderts keine abschreckende Rolle mehr spielen kann, selbst wenn man die 2-Prozent-Regel einhalten würde.

Daher soll die Bundeswehr zu einer kleinen, aber hochmobilen, kompetenten und patriotisch engagierten Truppe von 100.000 Soldaten werden (von derzeit 184.000)[10], deren Aufgaben hauptsächlich die innere Sicherheit, den Katastrophenschutz und den Grenzschutz beinhalten würden.

An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass die vorgeschlagene Konsolidierung der Militärausgaben keinesfalls bedeutet, auf die dringend notwendige Modernisierung der deutschen Verteidigungskräfte zu verzichten.[11] Im Gegenteil, eine Reduzierung der quantitativen Truppenstärke der Bundeswehr würde die qualitativ hochwertige und hochtechnologische Ausrüstung der Truppe vereinfachen und beschleunigen.

Gleichzeitig mit der Kürzung des deutschen Verteidigungshaushalts von 1,2 auf 1 Prozent des BIP muss der darin enthaltene Anteil der Militärausgaben für F&E von derzeit 0,05 auf mindestens 0,2 Prozent des BIP erhöht werden.[12] Dies wird sich deutlich positiv auf die Gesamtinnovation und das Wirtschaftswachstum in der Bundesrepublik auswirken.

Eine aktuelle Analyse in allen OECD-Ländern legt nahe, dass ein Anstieg der FuE-Ausgaben im Verteidigungsbereich um 10 Prozent zu einem Anstieg der privaten FuE-Aufwendungen um 4 Prozent führt.[13] Somit wird die oben erwähnte Erhöhung der staatlichen militärischen FuE-Ausgaben die privaten Forschungs- und Entwicklungsanstrengungen um 12 Prozent erhöhen und das BIP-Wachstum in Deutschland um 0,6 bis 1,8 Prozent erhöhen.[14]

Die insgesamte Ausgabenreduzierung auf 1 Prozent des BIP bedeutet eine klare Ablehnung des 2-Prozent-Abkommens der NATO, ist jedoch nicht zwangsläufig als ein Austritt Berlins aus dem Transatlantischen Bündnis zu verstehen.

Da die für die politische Ausrichtung der NATO entscheidende US-Außenpolitik zum Großteil nicht den deutschen Interessen entspricht und die Bundeswehr an sich nicht abschreckend genug sein kann, um die geostrategische Sicherheit und die nationale Souveränität Deutschlands zu gewährleisten, müssen diese mithilfe neuer regionaler Allianzen und anderer Faktoren durchgesetzt werden.

Erstens, im Rahmen des Konzepts der „Integration unterschiedlicher Geschwindigkeiten“ und „konzentrischer Ringe“[15] sollte Berlin zunächst versuchen, zusammen mit anderen willigen Kernmitgliedstaaten der EU eine unabhängige Europäische Verteidigungsunion (EDU) zu schaffen. Frankreich hat bereits offiziell seine Unterstützung für eine solche strategische Initiative zum Ausdruck gebracht.[16]

Einerseits könnte eine engere Zusammenarbeit und Koordinierung zwischen den nationalen europäischen Streitkräften ausreichen, um potenzielle externe Bedrohungen abzuwehren. Auch bedeutende Forschungsinstitute wie das ifo[17], das ZEW[18] und das IfW Kiel[19] befürworten die Schaffung eines gemeinsamen EU-Verteidigungssystems wie die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit (PESCO)[20] und eines europäischen Binnenmarktes für die Beschaffung öffentlicher Verteidigungsgüter als „gemeinsames öffentliches Gut“, von dem erhebliche Einsparungen durch Skaleneffekte erwartet werden können.

Andererseits muss Berlins letztendliche Entscheidungskompetenz in allen relevanten sicherheitspolitischen Fragen gewährleistet bleiben. Die Schaffung einer Europäischen Verteidigungsunion darf die grundlegende nationale Souveränität Deutschlands nicht untergraben, indem mögliche supranationalen Befugnisse der EDU übermäßig erweitert werden würden.

Im Interesse der Abschreckung und der Gewährleistung der geostrategischen Unabhängigkeit wäre eine nationale Befugnis über eigene deutsche Atomwaffen von Vorteil. Dies wird der Bundesrepublik jedoch aufgrund völkerrechtlicher Verpflichtungen aus dem Atomwaffensperrvertrag und dem Zwei-plus-Vier-Vertrag verweigert.

Allein eine Kofinanzierung des französischen Atomwaffenprogramms wäre rechtlich denkbar. Im Rahmen der Europäischen Bündnisklausel (Art. 42 Abs. 7 EUV) ist Paris jedoch bereits jetzt schon verpflichtet, im Falle eines Angriffs auf Deutschland militärische Unterstützung zu leisten und, als Ultima Ratio, seinen nuklearen Schutzschild einzusetzen.[21]

Zweitens, Berlin sollte seine Beziehungen zu Russland, Iran und China völlig neu überdenken, um Frieden, Stabilität und Sicherheit in Europa und Eurasien zu gewährleisten und damit in erster Linie die Reduzierung seiner Militärausgaben zu ermöglichen.

Keiner dieser drei eurasischen Schlüsselstaaten plant realistisch eine „harte“ Aggression („hard power“) gegen Europa. Und ihre Fähigkeit, die inneren Angelegenheiten der EU-Mitgliedstaaten durch wirtschaftliche und „weiche Macht“ („soft power“) zu beeinflussen, liegt auch weit hinter dem maßgeblichen und sehr realen Einfluss, den die USA seit Beginn der Nachkriegszeit auf Deutschland und Europa ausüben.[22]

Im Gegenteil, Moskau, Teheran und Peking sehen den militärischen Aufbau des transatlantischen Bündnisses unter Obama und Biden nicht weniger besorgt, als die westlichen Medien umgekehrt eine Besorgnis der NATO-Staaten über eine Gefahr seitens dieser drei Länder propagieren.

Aus diesem Grund sollte Deutschland im Rahmen einer größeren eurasischen (Sicherheits-) Partnerschaft eine neue Ost-Détente einleiten und umfassende Freundschaftsverträge mit Russland, dem Iran und China unterzeichnen.

Dies würde natürlich einen Kompromiss in so heiklen Fragen wie der Krim und dem Donbass bedeuten. Eine mögliche Lösung könnte die offizielle Anerkennung der Krim als Teil Russlands einerseits, die vollständige Wiedereingliederung der Donbass-Region in die Ukraine im Rahmen der Minsker Abkommen und russische finanzielle Wiedergutmachungszahlungen[23] an Kiew, andererseits, sein.

Quellen

[1] Youssef N., Gordon M. (2018). NATO’s 2% Target: Why the U.S. Pushed Allies to Spend More on the Military. WSJ. URL: https://www.wsj.com/articles/natos-2-target-why-the-u-s-pushed-allies-to-spend-more-on-the-military-1531437133

[2] NATO (2021). Funding NATO. URL: https://www.nato.int/cps/en/natohq/topics_67655.htm

[3] Korybko A. (2015). Hybrid Wars: The Indirect Adaptive Approach To Regime Change. ISSP. URL: https://orientalreview.org/wp-content/uploads/2015/08/AK-Hybrid-Wars-updated.pdf

[4] Vine D. (2020). Creating Refugees: Displacement Caused by the United States’ Post 9/11 Wars. Brown University. URL: https://watson.brown.edu/costsofwar/files/cow/imce/papers/2020/Displacement_Vine%20et%20al_Costs%20of%20War%202020%2009%2008.pdf

[5] BMF (2021). Bundeshaushalt 2019. URL: https://www.bundeshaushalt.de/#/2019/soll/ausgaben/einzelplan.html

[6] Herszenhorn D. (2019). Trump threatens to punish Germany over military spending. Politico. URL: https://www.politico.eu/article/donald-trump-threatens-germany-military-spending/

[7] Bardt H. (2021). Hohe Friedensdividende und niedrige NATO-Quote. IW Köln. URL: https://www.iwkoeln.de/studien/iw-trends/beitrag/hubertus-bardt-hohe-friedensdividende-und-niedrige-nato-quote-500206.html

[8] Chowdry S., Felbermayr G., et. al. (2020). The Economic Costs of War by Other Means. IfW Kiel. URL: https://www.ifw-kiel.de/publications/kiel-policy-briefs/2020/the-economic-costs-of-war-by-other-means-15301/

[9] Kofner Y. (2021). For a reorientation of German foreign policy: defence, sanctions, development aid and migration. MIWI Institute. URL: https://miwi-institut.de/archives/1036

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[10] Bundeswehr (2021). Personalzahlen der Bundeswehr. Februar 2021. URL: https://www.bundeswehr.de/de/ueber-die-bundeswehr/zahlen-daten-fakten/personalzahlen-bundeswehr

[11] Hadem J., Kunz K. (2020). 65-jähriges Jubiläum – Bundeswehr ist keine moderne, schlagkräftige Armee. URL:  https://www.swr.de/swraktuell/65-jahre-bundeswehr-100.html

[12] Congressional Research Service (2020). Government Expenditures on Defense Research and Development by the United States and Other OECD Countries. URL: https://fas.org/sgp/crs/natsec/R45441.pdf

[13] Moretti E. et al. (2019). The intellectual spoils of war: How government spending on defence research benefits the private sector. Berkerly, MIT. URL: https://voxeu.org/article/how-government-spending-defence-research-benefits-private-sector

[14] Belitz H. et al. (2015). Growth through Research and Development. DIW. URL: https://www.diw.de/documents/publikationen/73/diw_01.c.512965.de/diw_econ_bull_2015-35.pdf

[15] Schäuble W., Lamers K. (1994). Überlegungen zur europäischen Politik. CDU/CSU. URL: https://www.cducsu.de/upload/schaeublelamers94.pdf

[16] Barbiere C. (2017). France joins Commission in backing European Defence Union. Euractiv. URL: https://www.euractiv.com/section/politics/news/france-joins-commission-in-backing-europe-defence-union/

[17] EEAG Report on the European Economy (2018). All Together Now: The European Union and the Country Clubs. CESifo Group. URL: https://www.cesifo.org/DocDL/EEAG-2018.pdf

[18] Heinemann F., et al. (2017). How Europe can deliver. ZEW, Bertelsmann Stiftung. URL: https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/how-europe-can-deliver/

[19] Stehn J. (2017). Das Kern-Problem der EU. IfW Kiel. URL: https://www.ifw-kiel.de/de/publikationen/kiel-policy-briefs/2017/en/das-kern-problem-der-eu-8613/

[20] PESCO (2021). About PESCO. URL: https://pesco.europa.eu/about/

[21] Bundestag (2017). Völkerrechtliche Verpflichtungen Deutschlands beim Umgang mit Kernwaffen. URL: https://www.bundestag.de/resource/blob/513080/c9a903735d5ea334181c2f946d2cf8a2/wd-2-013-17-pdf-data.pdf

[22] Kofner Y. (2017). Soft Occupation. Investigating America’s influence on German politics. RT Documentary. URL: https://www.youtube.com/watch?v=K8o1kjw5U3s

[23] Havlik P, Kochnev A., Pindyuk O. (2020). Economic Challenges and Costs of Reintegrating the Donbas Region in Ukraine. wiiw. URL: https://wiiw.ac.at/economic-challenges-and-costs-of-reintegrating-the-donbas-region-in-ukraine-p-5351.html

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