Handels- und Wohlfahrtseffekte der Umsetzung des belarussisch-russischen Unionsstaates

_ Jurij Kofner, Ökonom, MIWI – Institut für Marktintegration und Wirtschaftspolitik. München, 23. Januar 2021.

Eine besondere Beziehung

Der postsowjetische Raum ist ein Paradebeispiel für das gelebte Konzept der ökonomischen Integration unterschiedlicher Geschwindigkeiten und eines „Eurasien“ der konzentrischen Ringe“. Da ist die Freihandelszone der GUS, dann die Eurasische Wirtschaftsunion (EAWU) und nicht zuletzt der Unionsstaat zwischen Weißrussland und Russland; ganz zu schweigen von einigen anderen (sicherheits-)politischen regional-multilateralen Organisationen, z.B. der CSTO.

Der Unionsstaat wurde 1999 formell gegründet. Sein oberstes Ziel ist die Schaffung einer supranationalen Konföderation zwischen Weißrussland und Russland. Derzeit werden viele ihrer Aufgaben im Rahmen der EAWU erfüllt, an der auch Armenien, Kasachstan und Kirgisistan beteiligt sind, z.B. eine Zollunion, eine gemeinsame Außenwirtschaftspolitik, ein gemeinsamer Arbeitsmarkt usw.

Nur in einigen Bereichen geht die Integrationstiefe des Unionsstaats weiter als die der EAWU, beispielsweise in seinem einheitlichen Bildungsraum.

Weißrussland ist im Außenhandel immens von Russland und der EAWU abhängig. Eine kurze Analyse der Daten von WITS (Comtrade) [1] zeigt, dass der Warenhandel mit Russland die Hälfte des Welthandels des Landes ausmacht, während der Handel mit den anderen EAWU-Mitgliedern nur einen Prozentpunkt zu diesem Anteil hinzufügt. Auf der anderen Seite ist Russland weitaus weniger abhängig von seinem Partner, der jedoch immer noch 5 Prozent der russischen Handelsstruktur ausmacht, während der Handel mit der EAWU insgesamt fast 9 Prozent ausmacht. Dies ist logisch, da Russlands Wirtschaft 29-mal größer ist als die seines belarussischen Nachbarn.

Diese Asymmetrie bedeutet jedoch nicht, dass Belarus dadurch benachteiligt wird. Im Gegenteil, das Land weist neben dem Handel mit Energieträgern einen soliden Zahlungsbilanzüberschuss mit der EAWU auf, der im Durchschnitt 12 Prozent des belarussischen BIP ausmacht. Minsk ist damit einer der größten Nettogewinner der eurasischen Wirtschaftsintegration. [2]

Ein Kernelement und zugleich informelle Voraussetzung der besonders engen Partnerschaft zwischen Minsk und Moskau war die Bereitstellung günstiger Öl- und Gaspreise durch Russland and Weißrussland, was einer erheblichen Subventionierung der belarussischen Wirtschaft gleichkam. Russland lieferte Rohöl ohne den üblichen Exportzoll nach Weißrussland, womit der Preis im Schnitt 30 Prozent unter dem Welthandelspreis lag. Minsk exportierte daraufhin rund ein Viertel der gelieferten Menge wieder und konnte den russischen Exportzoll für sich behalten. Der Rest wurde in belarussischen Raffinerien zu verschiedenen Benzinprodukten verarbeitet und anschließend auch weiter exportiert.

Im Rahmen seiner industriepolitischen Modernisierung führte Moskau 2019 das sogenannte „Steuermanöver“ ein, das bis 2024 den Exportzoll durch eine Fördersteuer ersetzen soll. Der deutsche Think Tank „Berlin Economics“ schätzt, dass dieser Wandel die belarussische Wirtschaft bis 2024 rund 1,5 Prozent ihres BIP kosten und die Haushaltseinnahmen um rund 15 Prozent reduzieren wird. [3] Gleichzeitig haben russische Ölraffinerien jedoch Anspruch auf Entschädigungen (Subventionen) durch den russischen Staat.

Minsk kritisiert wiederholt die Verstöße Russlands gegen das Prinzip der gleichen wirtschaftlichen Bedingungen, das seiner Meinung nach die Grundlage der eurasischen Wirtschaftsintegration sein sollte.

Zum absehbaren Missfallen seines Partners antwortete der Kreml, die Garantie der russischen Inlandspreise für Öl und Gas an Weißrussland sei nicht Bestandteil der Verträge über die EAWU oder den Unionsstaat. Als Bedingung für die Bereitstellung solcher Inlandspreise oder von Subventionen für belarussische Raffinerien schlug Moskau den erneuten Versuch einer drastisch tieferen Integration im Rahmen des Unionsstaates vor, der die Vereinheitlichung der Steuer-, Industrie- und möglicherweise sogar der Geldpolitik umfassen würde. Tatsächlich schlug Moskau die Vereinigung zu einem vereinten Land vor, was immer das offizielle Endziel des Unionsstaates war.

Methodik

Im Rahmen dieser Debatte möchte der Autor ein Gedankenexperiment und eine ökonometrische Simulation durchführen, um die möglichen Handels- und Wohlfahrtseffekte abzuschätzen, falls sich Weißrussland und Russland tatsächlich freiwillig zu einem Land – dem Unionsstaat – vereinigen würden.

Um dies zu tun, wird der Autor ein Gravitationshandelsmodell verwenden, das zuerst von Anderson (1979) [4] entwickelt und von Santos, Silva et Tenreyo (2006) [5]  zur Konsistenz mit Heteroskedastizität und zur Berücksichtigung von Null-Handelsströmen erweitert wurde; von Fally (2015) [6] über die Verwendung fester Effekte, um multilaterale Widerstände im Einklang mit strukturellen Bedingungen zu kompensieren; und von Anderson, Larch et Yotov (2015) [7] über die Poisson-Pseudo-Maximum-Likelihood-Schätzung (PPML). Letzteres führte auch ein dreistufiges Schätzverfahren mit einem Basisszenario, einem kontrafaktischen Szenario und einem allgemeinen Gleichgewicht der Gesamtausstattung ein, die alle in dieser Simulation angewendet werden.

Für die Zwecke dieses Modells erstellte der Autor eine neue Datenbank, die Daten zu bilateralen Handelsströmen von Industriegütern für 169 Länder im Jahr 2015, zur bilateralen Distanz und einen Contiguity-Dummy enthält, basierend auf drei verschiedenen von der WTO bereitgestellten Datensätzen [8], der CEPII [9] und der United States International Trade Commission [10], [11].

Es wurde ein Basisszenario (Status Quo der Handelsströme) und ein kontrafaktisches Szenario definiert (Formel 1):

(1)       X ij  = exp(b 1 lnDIST ij  + b 2 CNTG ij  + b 3 BRDR ij  + b 4 BRDR_BLR_RUS ij  + p i   + c j ) + e ij

Wobei X ij der Warenhandelsstrom vom Ursprung i zum Bestimmungsort j ist; DIST ij ist die bevölkerungsgewichtete Distanz zwischen i und j; CNTG ij ist ein Contiguity-Dummy; BRDRij ist ein Dummy für den Grenz-/internationalen Handel; BRDR_BLR_RUS ij ist ein Dummy für die Grenzen / den bilateralen Handel zwischen Weißrussland und Russland; p i ist der feste Effekte des Exporteurs; c j ist der feste Effekt des Importeurs; e ij  ist der Fehlerterm. Das kontrafaktische Szenario bzw. die kontrafaktischen Szenarien werden implementiert, indem der Dummy BRDR_CRF ij auf Null gesetzt wird.

Ergebnisse

Nach den Ergebnissen des Gravitationsmodells und des allgemeinen Gleichgewichtsverfahrens würden sich ihre gesamten Bruttoexporte um 1,7 bzw. 0,5 Prozent erhöhen, wenn sich Weißrussland und Russland freiwillig zu einem gemeinsamen Land – dem Unionsstaat – vereinigen würden. Das Einkommen der weißrussischen Produzenten würde um 4,7 Prozent steigen. Dank des stärkeren Wettbewerbs würden auch die Verbraucher in Russland von niedrigeren Preisen profitieren.

Infolgedessen würde die Einführung des Unionsstaats aus Sicht des Warenhandels das reale BIP Russlands geringfügig um 0,06 Prozent erhöhen, das von Weißrussland um 2,6 Prozent, wodurch 19,6 Tausend neue Arbeitsplätze im Land geschaffen werden könnten.

Aufgrund von Handelsumlenkungseffekten würde diese Vereinigung das reale BIP der belarussischen Nachbarn – Polen, Ukraine, Lettland und Litauen – geringfügig um 0,01 bis 0,04 Prozent reduzieren. Auch Kasachstan, Kirgisistan und Armenien würden sich durch den Anschluss an Weißrussland nur geringfügig positiv auswirken und ihr reales BIP um 0,01 Prozent steigern. [12]

Die hypothetische Vereinigung von Weißrussland und Russland zum Unionsstaat als potenzieller weiterer Schritt in der „Eurasischen Integration unterschiedlicher Geschwindigkeiten“ und eines „Eurasiens der konzentrischen Ringe“ würde vor allem Weißrussland und in geringem Maße der Eurasischen Wirtschaftsunion insgesamt zugutekommen: das reale BIP der EAWU würde um 0,2 Prozent steigen.

Anmerkungen

[1] WITS (2021). World Bank. URL: https://wits.worldbank.org/

[2] Kofner Y. (2020). Who wins and who loses from the Eurasian Economic Union? MIWI Institute. URL:  https://miwi-institut.de/archives/534

[3] Radeke J. (2020). The economic impact of the Russian oil tax maneuver. Berlin Economics. URL: https://www.german-economic-team.com/belarus/wp-content/uploads/sites/2/GET_BLR_NL_63_2020_en.pdf

[4] Anderson, J. E. (1979). A Theoretical Foundation for the Gravity Equation. The American Economic Review, 69(1), 106–116.

[5] Santos Silva, J. M. C. & Tenreyro, S. (2006). The log of gravity. The Review of Economics and Statistics, 88(4), 641–658.

[6] Fally, T. (2015). Structural gravity and fixed effects. Journal of International Economics, 97, 76–85.

[7] Anderson, J. E., Larch, M. & Yotov, Y. V. (2015). Estimating General Equilibrium Trade Policy Effects: GE PPML. LeBow College of Business, Drexel University School of Economics Working Paper Series, WP 2016–06, 1–24.

[8] Monteiro, Jose-Antonio (2020), “Structural Gravity Dataset of Manufacturing Sector: 1980-2016″, World Trade Organization, Geneva.

[9] Head, K. and T. Mayer, (2014), “Gravity Equations: Toolkit, Cookbook, Workhorse.”Handbook of International Economics, Vol. 4,eds. Gopinath, Helpman, and Rogoff, Elsevier.

[10] Borchert, I., Larch, M., Shikher, S., and Yotov, Y. (2020), “The International Trade and Production Database for Estimation (ITPD-E)”, International Economics, forthcoming.

[11] Tamara Gurevich and Peter Herman, (2018). The Dynamic Gravity Dataset: 1948-2016. USITC Working Paper 2018-02-A.

[12]  In fact, the other EAEU member states should also benefit from trade creation effects caused by the increased economic weight of the newly created BLR-RUS Union State within the EAEU.

Haftungsausschluss

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