Krise der heimischen Getränke- und Düngemittelindustrie: Gründe und mögliche Unterstützungsmaßnahmen

_ Jurij Kofner, Ökonom, MIWI Institut für Marktintegration und Wirtschaftspolitik. München, 20. September 2022.

Die deutsche Getränkeindustrie und mit ihr die heimische Düngemittelindustrie steckt in einer massiven Krise. Kürzlich veröffentlichte der führende Getränke- und Brauerverband einen brennenden Hilferuf.[1]

Gründe und Ausmaße der Krise

Die größten Probleme für die Branche sind sowohl die explodierten Preise für Strom und Erdgas als auch ein daraus resultierender Engpass bei industriellem Kohlendioxid.

Erdgas wird zur Produktion von Düngemittel verwendet. Zwischen Juli 2015 und April 2021 lag der durchschnittliche Gasgroßhandelspreis für Erdgas in Europa (niederländische TTF) bei rund 16 Euro pro MWh. Bis August 2022 explodierte der Gaspreis um das 15-fache auf über 230 Euro pro MWh.[2]

Während die Preise in Deutschland zwischen 2017 und März 2021 für Harnstoff, einem Hauptbestandteil von Düngemitteln und AdBlue, um die 300 Euro pro Tonne schwankten, kletterten sie im Mai 2022 auf über 1.200 Euro pro Tonne und lagen Anfang August noch bei ca. 800 Euro pro Tonne.[3]

Seit 2021 bis Juli 2022 sind die Strompreise für die Industrie um 87 Prozent von 21,38 auf 40,05 Cent pro KWh in die Höhe geschossen. Dabei haben sich bereits in den letzten zwei Jahrzehnten haben die Strompreise für die Industrie verdreifacht: von 6 auf 18,6 Cent pro KWh. Damit hat Deutschland mittlerweile die höchsten Strompreise weltweit.[4]

Aufgrund steigender Produktionskosten, vor allem Energiepreise, ging die inländische Produktion von Ammoniak im letzten Jahrzehnt um 16 Prozent zurück, von 2,9 Millionen Tonnen im Jahr 2013 auf 2,4 Millionen Tonnen im Jahr 2021.[5]

Kohlendioxid in Industriequalität, ein wesentlicher Input für die Getränkeindustrie, ist ein Nebenprodukt der Düngemittelproduktion. Über 70 Prozent der europäischen Kunstdüngerproduktion steht dem Branchenverband Fertilizers Europe zufolge seit August 2022 still.[6]

Daher wirkt sich eine Preisexplosion und Verknappung in der Erdgas-, Ammoniak- und Düngemittelproduktion direkt auf die Getränkebranche aus. Getränkehersteller beklagen, dass derzeit nur 30 bis 40 Prozent des durchschnittlichen Angebots an industriellem Kohlendioxid verfügbar sind.[7]

Es ist ironisch, dass ein Mangel an Kohlendioxid in einem Land, das so sehr damit beschäftigt ist, die CO2-Emissionen zu reduzieren, so schnell zu einem ernsten ökonomischen Problem geworden ist.

Dies kommt zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt, denn das Eigenkapital der Getränkekonzerne und insbesondere der mittelständischen Familienunternehmen nach zwei Jahren stattlicher Corona-Einschränkungen komplett aufgebrauch ist. 2020 und 2021 lagen die Umsätze in der Branche über 5 Prozent niedriger als 2019.[8]

Unterstützungsmaßnahmen für die heimische Getränke- und Düngemittelindustrie

Um die heimische Getränkeindustrie zu entlasten, braucht es radikale Soforthilfemaßnahmen.

Die CO2-Abgabe und die Gasumlage müssen aufgehoben, die Stromsteuer, die Energiesteuern und die Mehrwertsteuer auf Strom auf das EU-Minimum gesenkt werden. Damit würde der Strompreis für die Industrie sofort um 22 Prozent von 40,05 auf 31,20 Cent pro KWh sinken.

Die Regierung sollte erwägen, einen vorübergehenden Preisdeckel für Industriestrom einzuführen, wie es Frankreich, Belgien und andere europäische Länder bereits getan haben. Legt man den letztjährigen Durchschnittspreis von 21,38 Cent pro KWh zugrunde, würde dies die Stromrechnung für die Industrie weiter um 31,5 Prozent senken, dafür aber den Staat 22,2 Milliarden Euro kosten. Dieser Betrag könnte ohne neue Schulden finanziert werden, da das Einsparpotenzial des Bundeshaushalts 2023 bei ca. 89 Mrd. Euro liegt, – so der haushaltspolitische Sprecher der AfD-Bundestagsfraktion Peter Boehringer.

Die Regierung muss sicherstellen, dass die Getränke- und Düngemittelhersteller vom Energiekostensenkungsprogramm auch wirklich erfasst werden. Insbesondere die Existenz energieintensiver Unternehmen in der vorgelagerten Lieferkette und damit die in den Kosten der Vorprodukte enthaltene Erhöhung der Energiepreise sind bei der Beurteilung der Belastung eines Unternehmens ebenfalls zu berücksichtigen.

Gestiegene Produktionskosten können die Getränkekonzerne nicht weitergeben, weil sie im Lebensmitteleinzelhandel mit einem sogenannten Oligopson konfrontiert sind, also von vier Supermarktketten dominiert werden, die zusammen 67 Prozent des Marktes kontrollieren und damit den Einkaufspreis bestimmen können. Hier muss die Bundesmonopolkommission eine Untersuchung einleiten und prüfen, ob sie die Wettbewerbsbedingungen verbessern kann.[9]

Darüber hinaus muss die Regierung unnötige bürokratische Hürden abbauen, die einen potenziellen Brennstoffwechsel („Fuel Switch“) von Unternehmen behindern.[10]

Bei einer potenziellen Gaslücke von rund 70 TWh, die im März 2023 entstehen könnte,[11] würde die dritte Stufe des Notfallplans „Gas“ des BMWK greifen, also die geplante Abschaltung bestimmter Industrien von der Gasversorgung. Es ist von grundlegender Bedeutung, dass Hersteller von Düngemittel und anderen Ammoniakprodukten wie AdBlue als strategische Industrien eingestuft werden, d.h. als gesicherte Gasempfänger, die von der Abschaltung nicht betroffen sind. Andernfalls wäre ein kompletter Zusammenbruch der Lieferkette nicht nur der Getränkebranche, sondern des gesamten Logistik- und Landwirtschaftssektors die Folge.

Die Bundesregierung muss die Umsetzung des „Green Deal“ in der Landwirtschaft umgehend einstellen, um die angespannten Lebensmittelversorgungsketten nicht weiter zu beeinträchtigen. Bürokratische Maßnahmen, insbesondere Dokumentations-, Prüfungs-, Zertifizierungs- und Auditierungspflichten, die die Unternehmen in der derzeit höchst angespannten Marktsituation zusätzlich belasten, sind aufzuschieben. Auf nationaler Ebene müssen alle Spielräume genutzt werden, um die Wirtschaft vor vermeidbarem Mehraufwand zu bewahren

Die Getränke- und insbesondere die Brauindustrie ist für Bayern von kultureller und wirtschaftlicher Bedeutung. Mit 4 Mrd. Euro Umsatz im Jahr 2021 machten die fast 200 Getränkeunternehmen 1 Prozent des gesamten Unternehmensumsatzes in Bayern aus und beschäftigten direkt fast 17.000 Menschen.[12] Die Bayerische Staatsregierung sollte daher eigene finanzielle Soforthilfemaßnahmen auf Landesebene prüfen. Nach Schätzungen der AfD-Landtagsfraktion könnten mindestens 2 Mrd. Euro freigesetzt, also sofort im Landeshaushalt für einen solchen Zweck umgewidmet werden.

Da es das Ziel der Regierung ist, den CO2-Ausstoß der Wirtschaft zu reduzieren, es aber auch einen Mangel an industriellem Kohlendioxid gibt, ist es nur sinnvoll, die Forschung und Entwicklung von Technologien zur CO2-Abscheidung und -Nutzung (carbon capture and usage, CCU) zu unterstützen, z.B., in der Zementindustrie und Kohleverstromung.

Jedoch sind zum jetzigen Zeitpunkt die CCU-Technologien noch unwirtschaftlich: Die Abscheidung einer Tonne CO2 im Kraftwerkssektor wird aktuell mit ca. 52 Euro kalkuliert. Die Abscheidung aus Industrieprozessen ist meist mit höheren Kosten verbunden und liegt zwischen 52 und 160 Euro pro Tonne CO2. Mit der weltweiten Zunahme an Anlagen und neuen Forschungsaktivitäten ist aber mit weiteren Kostenreduktionen zu rechnen.[13]

Eine weitere Maßnahme wäre die Gewährung von Steuerabzügen für Unternehmen für Investitionen in Anwendungen zur Kohlenstoffabscheidung und -nutzung.

Quellenangaben:

[1] DBB (2022). Erklärung der Verbände: Handeln, bevor es zu spät ist. Gemeinsame Stellungnahme der Verbände der deutschen Getränkewirtschaft. URL: https://brauer-bund.de/pressemitteilungen/handeln-bevor-es-zu-spaet-ist/

[2] Intercontinental Exchange (2022). Dutch TTF gas futures. Statista. URL: https://www.statista.com/statistics/1267202/weekly-dutch-ttf-gas-futures/

[3] Zinke O. (2022). Düngerpreise: Ruhe vor dem Sturm – Preisexplosion mit Ansage. Agrarheute. URL: https://www.agrarheute.com/markt/duengemittel/duengerpreise-ruhe-sturm-preisexplosion-ansage-595306

[4] BDEW (2022). BDEW-Strompreisanalyse Juli 2022. URL: https://www.bdew.de/service/daten-und-grafiken/bdew-strompreisanalyse/

[5] VCI (2022). Produktion von Ammoniak in Deutschland in den Jahren von 2013 bis 2021. Statista. URL: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1285585/umfrage/ammoniakproduktion-in-deutschland/#:~:text=Im%20Jahr%202020%20wurden%20in,Ausgangstoff%20zur%20Herstellung%20von%20D%C3%BCngemitteln.

[6] Fertilizers Europe (2022). ReFertilize EU. URL: https://www.fertilizerseurope.com/wp-content/uploads/2022/09/Fertilizers-Europe-Press-release_ReFertilize-EU-002.pdf

[7] Dierig C. (2022). „Hunderte Betriebe mit Existenzangst“ – Verzweifelter Hilferuf der Getränkeindustrie. Welt. URL: https://www.welt.de/wirtschaft/plus241072053/Brauer-Safthersteller-und-Co-Der-verzweifelte-Hilferuf-der-Getraenkeindustrie.html

[8] Destatis (2022). Umsatz der Getränkeindustrie in Deutschland in den Jahren 2008 bis 2021. Statista. URL: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/305466/umfrage/umsatz-der-getraenkeindustrie-in-deutschland/

[9] BVE (2021). Marktanteile der führenden Unternehmen im Lebensmittelhandel in Deutschland in den Jahren 2009 bis 2020. Jahresbericht 2021. URL: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/4916/umfrage/marktanteile-der-5-groessten-lebensmitteleinzelhaendler/

[10] Buttkereit C. (2022). Wie Unternehmen von Gas auf Öl umsteigen können. SWR. URL: https://www.swr.de/swraktuell/rheinland-pfalz/fuel-switch-oel-statt-gas-in-energie-krise-100.html

[11] Gemeinschaftsdiagnose (2022). Zur Gefahr einer Gaslücke in Deutschland bei einer Drosselung russischer Lieferungen auf 20 Prozent. URL: https://gemeinschaftsdiagnose.de/wp-content/uploads/2022/07/Gemeinschaftsdiagnose_Sonderauswertung-Gasluecke_Juli-2022.pdf | Gemeinschaftsdiagnose (2022). On the Threat of a Gas Gap in Germany in the Event of a Suspension of Russian Deliveries. URL: https://gemeinschaftsdiagnose.de/wp-content/uploads/2022/07/JointEconomicForecast-SpecialReport-GasGapGermany-June2022.pdf

[12] StMWi (2022). Industriebericht Bayern 2022. URL: https://www.stmwi.bayern.de/fileadmin/user_upload/stmwi/publikationen/pdf/2022_09_01_Industriebericht_Bayern_2022_BF.pdf

[13] Seidel F. (2021). CCUS-Technologien: Ein wichtiger Baustein für den Klimaschutz? KfW Research. URL: https://bit.ly/3upAGt6

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