Nord Stream 2: Ein Verzicht kostet Deutschland Milliarden und unterläuft die Klima-Ziele
_ Jurij Kofner, Ökonom, MIWI Institut für Marktintegration und Wirtschaftspolitik. München, 14. November 2020.*
“We want them to buy from us, not the Russians”.
– Robert McNally, President, Rapidan Energy Group. Quelle: FT, 24. Juli 2020
Washington versucht bereits seit Jahren mit aller Macht, die Fertigstellung des Nord Stream 2-Projekts zu verhindern, welches jährlich bis zu 57 Milliarden Kubikmeter russisches Erdgas von Westsibirien ausgehend über den Boden der Ostsee direkt zu Verbrauchern in Deutschland und Europa transportieren soll.
Um ihr Ziel zu erreichen, sind den amerikanischen Behörden fast alle Mittel recht, einschließlich von Drohbriefen an deutsche Unternehmen und Häfen sowie außerterritoriale Sanktionen gegen den eigenen Bündnispartner.
Laut offizieller Position sind die USA angeblich besorgt darüber, dass Nord Stream 2 die Energieabhängigkeit Europas von einem „strategischen Konkurrenten“ erhöhen würde. Wirtschaftliche Berechnungen und andere Fakten zeigen jedoch deutlich, dass dieses „Cowboy“-Verhalten durch banale finanzielle Interessen motiviert ist.
Europa ist von Moskau nicht so energieabhängig, wie es scheint. Laut Eurostat lieferte Russland im Jahr 2019 über 38 Prozent der gesamten Erdgas-Importe von außerhalb der EU. Nach dem Handelsblatt waren das jedoch nur sechs Prozent des gesamten Energieverbrauchs der EU.
Aufgrund der europäischen Energiewende („EU Green Deal“), der Entscheidung der Bundesregierung, Kohle- und Kernkraftwerke bis 2022 abzuschalten, und auch wegen der Entscheidung der Ukraine, Gas aus Europa und nicht direkt von Gazprom zu kaufen, wird die europäische Erdgas-Nachfrage voraussichtlich nicht sinken, sondern bis 2050 relativ stabil bleiben. Diese Annahme wird durch die offiziellen Bewertungen der Europäischen Kommission gestützt.
Erdgas dürfte eine wichtige Rolle als Überbrückungsmittel bei der Energiewende in der EU spielen, da es die am wenigsten kohlenstoffintensive der fossilen Brennstoffe ist. Bei seiner Verbrennung werden circa 40 Prozent weniger CO2 als bei Kohle und circa 25 Prozent weniger als bei Rohöl emittiert.
Gleichzeitig wird der Bedarf an Gas-Importen aufgrund des Rückgangs der eigenen Förderung um durchschnittlich elf Prozent alle fünf Jahre in diesem Zeitraum in etwa gleichem Maße zunehmen. Dies ist eine Konsensprognose deutscher, britischer, niederländischer, schwedischer, ukrainischer und EU-Studien. Die Gesamtnachfrage der EU, der Schweiz und der Westukraine nach Erdgas im Jahr 2025 dürfte sich daher auf rund 500 Milliarden Kubikmeter belaufen, von denen circa 400 Milliarden Kubikmeter importiert werden müssen.
Da aber die Förderung auch bei zwei der wichtigsten externen Gas-Lieferanten der EU – Algerien und Norwegen – zurückgehen wird, dürfte eine Importlücke entstehen (zum Beispiel circa 76 Milliarden Kubikmeter im Jahr 2025), welche nur der globale Markt für Flüssigerdgas (LNG) sowie Russland schließen können.
Daher werden die Europäer gezwungen sein, dieses notwendige Gasvolumen hauptsächlich entweder über Pipelines (einschließlich Nord Stream 2) von Russland oder auf dem internationalen LNG-Markt zu kaufen, überwiegend aus Katar, Australien und… den USA.
Wenn die Deutschen und andere Europäer beschließen, dieses Gas von den Amerikanern und nicht von den Russen zu kaufen, werden sie mehr bezahlen müssen, und der inländische Verkaufspreis für Gas wird somit steigen. Dies sind die Forschungsergebnisse einer Reihe von unabhängigen wissenschaftlichen Instituten und Ökonomen.
Nach ausführlichen Prognosen des „Oxford Institute for Energy Research“ wird der Durchschnittspreis für Flüssigerdgas, das von den USA nach Nordwesteuropa geliefert wird, im Jahr 2025 circa 6,65 Euro pro mmBThU (Millionen British thermal unit). betragen, während er für Pipeline-Gas, das von Russland nach Mitteleuropa geliefert wird, nur ca. USD 6,25 pro mmBThU betragen wird. Im Durchschnitt wird russisches Gas also ca. 40 Euro-Cent billiger pro mmBThU sein als amerikanisches Tankergas (Wechselkurs: USD 1 = 0,85 EUR, Stand 10. August 2020).
Wie am Anfang erwähnt, soll die geplante Durchsatz-Kapazität von Nord Stream 2 bis zu 57 Milliarden Kubikmeter pro Jahr betragen. Die Umrechnungsrate für einen Kubikmeter Erdgas beträgt 35.310.734,46 mmBThU. Wenn es also den Vereinigten Staaten gelingen würde, die Realisierung von Nord Stream 2 zu verhindern, sodass Deutschland und andere EU-Mitgliedstaaten das gleiche Gasvolumen nicht aus Russland, sondern hypothetisch ausschließlich von den USA kaufen würden, dann müsste die EU jährlich insgesamt 805 Millionen Euro mehr bezahlen. Nach einer groben Verteilungsquote russischer Erdgas-Importe in die EU von Eurostat, würden sich die Mehrkosten für Deutschland und Italien jeweils auf 161 Millionen Euro pro Jahr belaufen (Tab. 1). Bis 2030 können sich die zusätzlichen Kosten durch das Fehlen von Nord Stream 2 auf fast 8 Milliarden Euro für die EU und 1,6 Milliarden Euro allein für Deutschland summieren.
Dafür würde die Verhinderung des Nord Stream 2-Projekts den Amerikanern jährliche Erlöse von 13,4 Milliarden Euro einbringen. Bis 2030 wären das insgesamt 133 Milliarden Euro.
Tab 1. Mehrkosten für die EU-Mitgliedsstaaten bei Verzicht auf Nord Stream 2 (EUR Mio. pro Jahr).
|
Jährlich |
Insgesamt 2020-2030 |
AUT |
12,1 |
121 |
FIN |
80,5 |
805 |
FRA |
80,5 |
805 |
DEU |
161 |
1.610 |
ITA |
161 |
1.610 |
NDL |
80,5 |
805 |
POL |
80,5 |
805 |
Rest der EU |
8,1
|
81
|
EU insgesamt |
805,1 |
8.051 |
Quelle: Eigene Berechnungen anhand von Daten von OIER (2019) und Eurostat (2020).
Diese Schlussfolgerung wird auch durch andere empirische Studien gestützt. Laut einem Forschungsbericht von Dr. Maik Günther, Experte für Energiewirtschaft der Stadtwerke München und Gastforscher an der Technischen Universität München (TUM), werden in einem Szenario ohne Nord Stream 2 die durchschnittlichen Großhandelspreise für Gas in Italien um 55 Euro pro Megawattstunde (MWh) höher sein, um 70 Euro in Frankreich und um 80 Euro in Deutschland – im Vergleich zu einem Szenario, in dem Nord Stream 2 in Betrieb wäre (Tab. 2).
Tab. 2. Durchschnittliche Preisdifferenz zu einem Szenario ohne Nord Stream 2 (in Großhandelspreisen für Gas, in EUR 2017 pro MWh, 2020 bis 2040)
GBR |
FRA |
NDL |
DEU |
CZE |
POL |
ITA |
BGR |
ROM |
0,66 |
0,70 |
0,79 |
0,80 |
0,89 |
0,70 |
0,55 |
0,39 |
0,15 |
Quelle: Günther und Nissen 2019.
In einer anspruchsvollen Vier-Szenarien-Berechnung des durchschnittlichen Großhandelspreises für Erdgas in der EU kommt das „Energiewirtschaftliche Institut an der Universität zu Köln“ (EWI) zu noch viel einschlägigeren Erkenntnissen. Ihren Ergebnissen zufolge werden die EU-Großhandelspreise für Gas im Szenario mit niedriger globaler LNG-Nachfrage im Jahr 2025 um fast elf Prozent höher sein (2,6 EURO mehr pro MWh), wenn Nord Stream 2 nicht verfügbar ist, verglichen mit einem Szenario mit Nord Stream 2 in Betrieb. Verbraucher in den EU-Ländern würden somit einen Gesamtverlust von 12,9 Milliarden Euro erleiden. Im Szenario mit hoher globaler LNG-Nachfrage hätten die europäischen Verbraucher im Jahr 2025 insgesamt zusätzliche Kosten von 34,8 Milliarden Euro zu tragen, verglichen mit einer Situation, in der Nord Stream 2 in Betrieb ist. Der durchschnittliche EU-Großhandelspreis für Gas würde im Jahr 2025 um 27 Prozent höher sein (6,9 Euro mehr pro MWh), als in einem Szenario, in dem Nord Stream 2 verfügbar ist.
Trotz der Tatsache, dass die quantitativen Ergebnisse der oben genannten Studien variieren, sind sie sich alle einig, dass die Nicht-Realisierung von Nord Stream 2 zu einem signifikanten Anstieg der EU-Erdgaspreise und zu einem beträchtlichen Wohlfahrtsverlust für die europäischen Volkswirtschaften führen wird. Insbesondere die Hauptverbraucher von russischem Gas – Deutschland und Italien – sollten sich überlegen, ob sie dazu bereit sind. Schließlich haben beide, laut dem Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) sowie dem Institut der deutschen Wirtschaft Köln (IW), bereits schon jetzt die höchsten Industriestrompreise und Lohstückkosten aller EU-Länder.
Die Politik der Einmischung in innereuropäische Angelegenheiten und des außenpolitischen Drucks zur Erreichung nationaler wirtschaftlicher Interessen ist in Washington eine gängige Praxis. Jüngstes Beispiel: Nach Berechnungen des IfW Kiel wird das Weiße Haus im Rahmen des stark asymmetrischen „Phase-One-Deals“ China im Jahr 2021 dazu nötigen, amerikanisches LNG im Wert von über zwei Milliarden US-Dollar zu kaufen.
Der wirtschaftliche Pragmatismus und das unterschiedliche Maß, mit dem die amerikanische Politik misst, zeigen sich auch daran, dass die Amerikaner den Europäern zwar verbieten wollen, russisches Gas zu kaufen, aber selbst aktiv russisches Öl kaufen. Seit Beginn der Ukraine-Krise im Jahr 2014 bis zum Jahr 2020 stiegen die Importe von Rohöl und Erdölprodukten aus Russland in die USA um 56,2 Prozent auf fast 190 Milliarden Barrel pro Jahr. Dies sind die offiziellen Daten der US-Regierung.
Letztendlich wäre die amerikanische Flüssiggas-Alternative viel weniger klimafreundlich. Laut einer Studie des in Chicago ansässigen Risikomanagement- und Consulting-Unternehmens „Sphera“ würde der Import von Erdgas nach Mitteleuropa über die Nord Stream 2-Pipeline im Durchschnitt viermal weniger CO2 ausstoßen als der Import der gleichen Menge an Flüssigerdgas per Tanker aus den Vereinigten Staaten.
Schließlich könnte Nord Stream 2 auch ein Grundpfeiler der ehrgeizigen EU-Wasserstoffstrategie werden. Nach Angaben von Gazprom und dem Eurogas-Verband ist es technisch möglich, die Pipeline-Förderkapazität mit bis zu 70-80 Prozent Wasserstoff zu beladen.
*Erstveröffentlichung in den Deutschen Wirtschaftsnachrichten (DWN) am 14. November 2020.
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