Volksverelendung und Elitenüberproduktion: Was die deutsche Rechte von der Kliodynamik lernen kann
_ J.C. Kofner, Ökonom, MIWI Institut für Marktintegration und Wirtschaftspolitik. Erstveröffentlichung beim Heimatkurier. München, 14. November 2024.
Rezension zu “Endtimes: Elites, Counter-Elites, and the Path of Political Disintegration” (2023) von Peter Turchin.
Peter Turchins „Endtimes“ (2023) ist ein bahnbrechendes Werk, das historische Entwicklungen und gesellschaftliche Instabilität durch die Linse der von ihm begründeten Cliodynamik analysiert. Der amerikanisch-russische Historiker und Populationsbiologe zeigt darin, dass man Geschichte nicht nur qualitativ erfassen kann, sondern dass quantitative, mathematische Methoden – wie sie in der Ökonometrie verwendet werden – ebenfalls auf die Geschichtswissenschaft anwendbar sind. Mit seinem Team hat Turchin über Jahre hinweg eine Vielzahl an historischen Datensätzen gesammelt und anhand statistischer Modelle untersucht. Sein Ziel: wiederkehrende Muster und Kausalitäten zu erkennen, die den gesellschaftlichen Zusammenbruch erklären.
Zentral in Turchins Analyse sind zwei wiederkehrende Faktoren, die Gesellschaften an den Rand des Zusammenbruchs führen: Erstens, die Verarmung der Mittel- und Unterschicht, die den Großteil der Bevölkerung ausmacht. Zweitens, die Überproduktion von Eliten, die zu Konflikten innerhalb dieser Führungsschicht führt, da junge und aufstrebende Eliten die etablierten Mächtigen herausfordern. Diese Kombination, so Turchin, führt immer zu erheblichen sozialen Spannungen, und in 80 % der Fälle zu Konflikten oder gar Bürgerkriegen.
In der modernen Gesellschaft unterscheidet Turchin zwischen Staat, Großunternehmen und der allgemeinen Bevölkerung. Wenn das Wirtschaftswachstum nicht gleichmäßig verteilt ist, profitieren meist staatliche und wirtschaftliche Eliten, deren Vermögen auf den Schultern der arbeitenden Bevölkerung wächst. Besonders in den USA beobachtete Turchin eine deutliche Verschiebung zugunsten der Wirtschaftseliten seit den 1980er Jahren, während der Einkommensanteil der arbeitenden Bevölkerung stagniert oder zurückgeht. Diesen Prozess nennt er die „Vermögenspumpe“ („wealth pump“). Die zunehmende Ungleichheit und die wachsende Zahl an Eliteanwärtern verstärken die Konflikte innerhalb der Elite. Parallel dazu entwickelt sich in der Gesellschaft ein überbordender Wasserkopf, der zu schwer ist, um von der breiten Bevölkerung getragen zu werden. Die verarmenden Unter- und Mittelschichten stellen die Fußtruppen ür den wachsenden Kreis unzufriedener Elite-Anwärter. Turchin prognostiziert auf Basis dieser Entwicklung eine hohe Wahrscheinlichkeit für politische Unruhen in den USA in den 2020er Jahren.
Besonders wertvoll ist Turchins Arbeit durch seinen quantitativen Ansatz. Indikatoren wie Medianlöhne im Verhältnis zum BIP, Reallohn- und Realeinkommensentwicklung, die inflationsbereinigte Anzahl der Milliardäre als Bevölkerungsanteil, Erschwinglichkeit von Wohnen und Hochschulbildung sowie der Medianlohn im Vergleich zum Einkommen des oberen 1 % und 0,1 % bieten einen objektiven, statistisch fundierten Einblick in die Dynamik sozialer Instabilität.
Auch wenn ich ein Befürworter der Cliodynamik bin und Turchins Modell insgesamt als nützlich und präzise empfinde, gibt es Punkte, die ich kritisch sehe. Turchin bewundert die „Great Compression“, eine Phase geringerer Ungleichheit, die er auf die sozialdemokratische Politik der New-Deal-Demokraten zurückführt. Diese Perspektive zur Lösung der Vermögenspumpe ist jedoch einseitig und berücksichtigt nicht die einflussreicheren Faktoren wie den Sieg der USA im Zweiten Weltkrieg und technologische Innovationen.nVielmehr hätte Turchin die Rolle des Zentralbanksystems und des Fiat-Geldes als treibende Kräfte der „Vermögenspumpe“ von „unten nach oben“ eingehender analysieren sollen.
Für politische Entscheidungsträger, auch und gerade für die AfD, kann die Cliodynamik als neuartige Wissenschaft zur Vorhersage und Einordnung künftiger gesellschaftlicher Entwicklungen äußerst wertvoll sein. In Deutschland beobachten wir ähnliche Tendenzen wie in den USA: sinkende Realeinkommen, Erosion der Mittelschicht, wachsende Superreichenanteile, Blockaden der Altparteien gegen den Aufstieg junger Elite-Anwärter, und die Masseneinwanderung, die einen Zustrom junger unzufriedener Männer aus teilweise vormodernen Kulturen schafft. Besonders die staatlichen Eliten in Deutschland steigern ihren Wohlstand und ihre Macht auf Kosten der kleinen und mittleren Unternehmen und der arbeitenden Bevölkerung. Diese toxische Mischung könnte zu einem Bürgerkrieg führen, sollte die AfD nicht bald diese sozio-politischen Machtverhältnisse ändern und populistisch-libertäre Maßnahmen durchsetzen.
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